September 2024

Klau, was du klauen kannst - digitale Raubritter, Bürgerrechte und die Freiheit der Wirtschaft

Seine Kernbotschaft war einfach: Klau, was du klauen kannst und mach

dein Geschäft. Mit dem Geld kannst du im Nachgang genug Anwält:innen
damit 
beauftragen, „…die Sauerei aufzuräumen“.

 

Was Eric Schmidt, Silicon Valley-Größe und Ex-CEO von Google, bei einer
Veranstaltung 
mit dem Titel „The Age of AI“ an der Standford University Mitte
August von sich gab, 
war nicht neu.

 

Und doch hat die Selbstverständlichkeit, mit der Schmidt das digitale
Raubrittertum als legitimes Geschäftsmodell adelte, für reichlich 

Aufmerksamkeit gesorgt. Quer durch die Branchen-, Wirtschafts- und 
Generell-Interest-Medien war die Empörung mal mehr, mal weniger groß.

 

Vermutlich, weil Schmidt einfach nur unverblümt ausgesprochen hat, was

schon lange Realität ist. Und mit dem Datenhunger der KI-Modelle noch

einmal eine neue Dimension an Skrupellosigkeit erlangt.

 

Wirtschaft ist kein rechtsfreier Raum

 

Jetzt werden viele wieder sagen: So ist das halt, wenn man in neue, noch

unentdeckte Sphären vorstößt. Wo es noch keine Regeln gibt, herrscht für

eine Weile eben Wilder Westen. Als volkswirtschaftliches Preisschild

sozusagen für Entdeckungen, Innovationen und Fortschritt. 

 

So auch beim Thema KI. Schneller als neue Produkte und Geschäftsmodelle

ihre Tauglichkeit beweisen, laufen Beschwerden gegen „politische Regelwut“,

„staatlicher Bevormundung“  und „Gängelung“. Erfinderische Dynamik würde

behindert, unternehmerische Freiheit im Keim erstickt. Und immer klingt ein

bisschen Wohlstandsendzeit mit.

 

Nun, ganz so einfach ist es nicht. Wirtschaft ist kein rechtsfreier Raum.

Selbst im Wilden Westen war das Abschlachten der Ureinwohner schon ein,

wenn auch geflissentlich toleriertes Verbrechen. 

 

Der Markt ist viel freier, als das Geschimpfe auf die Politik suggeriert.

 

Dass in Zeiten vielfachen Politikversagens neoliberale Ideologieträger eine 

möglichst  „freie“ Marktwirtschaft als einziges Mittel gegen stagnierendes

Wachstum, steigende  Sozialkosten und anschwellenden Volksverdruss
empfehlen, 
überrascht nicht. 

 

Fast täglich gefallen sich wirtschaftsliberale Protagonist:innen darin, mehr 

unternehmerische Freiheit und Marktliberalisierung als erste, alles

überragende Forderung an Staat und Gesellschaft zu stellen.

 

Doch wer die zunehmende Versteifung der Wirtschaftsnation Deutschland

allein der zweifellos überbordenden Bürokratie und politisch wie behördlich

motivierter Regelwut anlastet, macht es sich zu einfach. Viel zu einfach.

 

Kommunikative Ablenkungsmanöver

 

Manch dramatischer Verweis auf freiheitsberaubende Überregulierung durch

Politik und Staat, vulgo Ampel, entpuppt sich schlicht als kommunikatives

Ablenkungsmanöver von hausgemachten Wettbewerbsschwächen.

 

Oder auch, frei nach Schumpeter: vom Mangel an kreativem Zerstörungsmut

nicht mehr zeitgemäßer Produkt- und Geschäftsmodelle.

 

Besonders heikel wird es, wenn beide versagen: der Staat und der Markt.

Beim Einstieg in die Elektromobilität hat jeder für sich einen Scheiß geregelt.

Als mehrjährigem E-Mobil-Nutzer der ersten Stunde kommen mir vor lauter

Lachen immer noch die Tränen.

 

Und dass China angesichts des unaufholbaren Rückstands in der

Verbrennertechnologie und massiven Umweltbelastungen alles auf die

Karte E-Mobilität setzt, darauf haben Expert:innenschon hingewiesen,

da lag für die Ampel in Berlin noch nicht mal der Stromanschluss.

 

Menetekel für individuelle und unternehmerische Freiheit

 

Zurück zu den digitalen Raubrittern. Sie nehmen sich, was der Datenmarkt

hergibt, und ideologisieren die Freiheit, die sie sich nehmen, unverfroren als

Zeichen einer liberalen Ökonomie zum Wohle der Allgemeinheit.

 

Der wirtschaftsliberale Freiheitsbegriff verliert jedoch jede Legitimität, wenn

er nicht auch die Freiheit der Einzelnen und deren Schutz meint.

 

Schon lange geht es dabei nicht mehr nur um den Schutz von Urheber-

und Nutzungsrechten und dergleichen. Das Recht der Konsument:innen auf

informationelle Selbstbestimmung – sprich das individuelle Verfügungsrecht

über personenbezogene Daten – ist ein konstitutives Bürgerrecht der

freiheitlich-demokratischen Gesellschaft. Je digitaler sie wird, umso größer

seine Bedeutung.

 

Die DSGVO, bei aller berechtigten Kritik, ist ein wichtiger Schritt, dieses

Recht durchzusetzbar zu machen. Möglicherweise führen die laufenden

Gerichtsverfahren vor diversen Gerichten in USA und Europa gegen

marktschädliche Monopolstrukturen in der Tech-Industrie zu noch viel

weiterreichenden Konsequenzen – für einen wirklich offenen Markt.

 

Fair Deal zwischen Unternehmen und Konsument:innen

 

Abgesehen davon, es gäbe auch den Weg, den der gebürtige Karlsruher

Andreas Weigend, Doktor der Physik, Datenexperte und langjähriger

Chefwissenschaftler von Amazon, in seinem 2017 erschienenen Buch

„Data for the people – Wie wir die Macht über unsere Daten zurückerobern“

skizziert hat.

 

Ich nenne es den „Fair Deal“ zwischen den Lieferanten der Daten, dem

neuen „Rohöl“ (Weigend), und den datenverarbeitenden Unternehmen,
den 
neuen „Raffinerien“ des Digitalzeitalters.

 

Dazu schließen beide Seiten eine maximal transparente Vereinbarung

zur Erhebung und Nutzung persönlicher Daten. Diese regelt, welche

Daten für welche Produkte und Zwecke für einen definierten Zeitraum

erhoben, genutzt und weiterverarbeitet werden dürfen.

  

Mit gutem Gewissen Teil des Produkts sein

 

Beide zahlen einen Preis dafür, beide profitieren souverän. Auf der

Grundlage entsteht ein tragfähiges und nachhaltig geschäftsförderndes

Vertrauensverhältnis. Von dem die Konsument:innen sagen: So bin ich

gern Teil des Produkts. Und Unternehmen guten Gewissens damit

als Differenzierungsmerkmal werben können.

 

Tatsache jedoch ist: Große Teile der Tech-Industrie, Konzerne und 

Start ups gleichermaßen, befinden sich mit ihren Geschäftsmodellen

fast ausnahmslos noch tief im digitalen Mittelalter. Beim derzeitigen

 Zustand des Marktes wird sich daran wenig ändern.

Jedenfalls nicht schnell genug.

 

 

Links zum Thema

 

NZZ  - Ein Tech-Cowboy verrät dunkle Branchengeheimnisse

https://www.nzz.ch/report-und-debatte/eric-schmidt-in-stanford-klaut-ideen-anwaelte-raeumen-auf-ld.1844641


Original File Script

https://github.com/ociubotaru/transcripts/blob/main/Stanford_ECON295%E2%A7%B8CS323_I_2024_I_The_Age_of_AI%2C_Eric_Schmidt.txt

 

Audio

ttps://drive.google.com/file/d/1eQPHqcRwChpTHYEUQlhUDnBNnCSCTXtp/edit 

 

 

F.A.Z. - Wie die Tech-Branche sich politisch organisiert

 

https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/silicon-valley-und-die-politik-19910420.html

 

F.A.Z. - Kartellrecht mit Biss

 

https://zeitung.faz.net/faz/digitalwirtschaft/2024-09-09/kartellrecht-mit-biss/1072123.html

 

„Data For The People“, Andreas Weigend, Hamburg 2017

 

https://www.murmann-verlag.de/products/andreas-weigend-data-for-the-people

Juli / August 2024

Lauter gute Nachrichten

Kamala, Klima und besondere Lektüreempfehlungen gegen jede Art von
Sommerblues.

 

 

Ach, ich liebe diesen „Only bad news are good news“-Journalismus. In der F.A.Z. vom 21. Juli
wähnt Autor Jens Giesel angesichts weltweit sinkender Geburtenraten die Menschheit schon
auf dem Weg zum Bevölkerungskollaps. Ist der Rückgang des Bevölkerungswachstums nicht
eigentlich eine verdammt gute Nachricht für unseren Planeten?

 

Professionelle Abstumpfung

 

Ob situative Gedankenlosigkeit oder schon chronische „déformation professionelle“, Tatsache
ist, der ritualhafte Negativ-Journalismus führt nicht nur bei den Medienkonsument:innen zu
Nachrichtenmüdigkeit und Abstumpfung, sondern auch bei den Medienschaffenden selbst.

 

Anders ist die Inspirationslosigkeit auch gar nicht zu erklären, mit der die journalistische Elite
unseres Landes die diesjährigen Politiker-Sommer-Interviews geführt hat. Zeitweise hatte das
den Charakter eines Vorgesprächs zur nächsten Steuerprüfung. Freilich lag das zu gleichen
Teilen auch an den Befragten und ihren Antworten.

 

Don´t panic

 

Bleiben wir heute mal konsequent positiv und halten uns an die Ewigkeitsempfehlung des
britischen Autors von „Per Anhalter durch die Galaxis“, Douglas Adams: „Don´t panic“.
Zumal es mehr als genug gute Nachrichten gibt.

 

Kamala for President

 

Good news aus den USA: Anstelle des präsenilen Amtsinhabers bekommt es Donald Trump,
der ebenfalls betagte, zu keinen komplexen Sätzen fähige, krankhaft narzisstische, bereits
einmal abwählte Ex-Präsident und verurteilte Straftäter, nun mit einem anderen Kaliber zu tun:
mit der angriffslustigen und bislang in ihrer politischen Wirkfähigkeit unterschätzten, ehemaligen
Staatsanwältin Kamala Harris. Ist das nicht richtig gut?

 

Ich freue mich jetzt schon auf die TV-Debatte(n). Einschaltquoten wie einst bei der ersten
Mondlandung oder den Boxkämpfen von Muhammad Ali sind nicht ausgeschlossen. Doch bei
aller Vorfreude: Annalena Baerbock hat auf den Punkt gebracht, worum es vor allem für uns
dabei geht. Wer auch immer Präsident:in der geteilten Staaten von Amerika werden wird.
Europa wird mehr denn je für sich selbst sorgen müssen. Auch das ist eine gute Nachricht.

 

Prima Klima

 

Während die Selbstkleber-Platoons der Letzten Generation versuchen, den Leuten ihren
Flug in den Urlaub zu vermiesen, fließen dem Bund laut Umweltbundesamt nicht nur
Rekorderlöse aus dem Emissionshandel zur Finanzierung seines Klimafonds zu. Dabei ist
der CO2-Ausstoß von Kraftwerken und Industrie in Deutschland ist gegenüber 2023 um 18%
zurückgegangen, die Stromerzeugung aus Kohle um rund ein Drittel. Das ist der niedrigste
Stand seit über 50 Jahren.

 

Prima Klima selbst beim Spiegel. Am 11.07. berichtet dessen Online-Ausgabe geradezu
begeistert über die Fortschritte von Mercedes-Benz bei der Entwicklung elektrisch
angetriebener Super-Trucks. Sobald die Lade-Infrastruktur stehe, könnten rund 65% der
Fernverkehrskunden direkt auf den eActros der Tüftler aus dem Schwabenland umsteigen.
Heiligsblechle.

 

Dazu passt, was die Datenanalystin Hannah Ritchie auf der deutschen Medienplattform
„Perspective Daily“ verbreitet: Die Pro-Kopf-Emissionen der Weltbevölkerung würden bereits
seit zehn Jahren kontinuierlich zurückgehen. Letzte Generation? Von wegen.

 

So viel Gutes. Geht das gut?

 

Vor ein paar Tagen habe ich mir zum ersten Mal in meinem Leben die VOGUE gekauft.
Wegen des Titelbilds mit der über hundertjährigen Shoah-Überlebenden Margot Friedländer.
In diesem Fall teilt die Mode nicht, sondern entwickelt, frei nach Schiller, selbst einen
bindenden Zauber. Grazie und Schönheit von Margot Friedländers machen ihre
Lebensbotschaft gegen das menschenverachtende Nazi-Grauen besonders stark und
wirkmächtig: Love.
 

Der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2024 geht an die US-amerikanisch-
polnische Historikerin und Publizistin Anne Applebaum. Damit wird eine der profiliertesten
und intelligentesten Verteidigerinnen der Demokratie ausgezeichnet. Eine ausgesprochen
gute Wahl.

 

Dem Sommerblues keine Chance

 

Damit bin ich auch schon bei den Lektüreempfehlungen für diesen Sommer.

 

Anne Applebaums Schriften verbreiten nicht immer gute Laune. Die gute Nachricht: Ihre
analytische Präzision und ihre klare Haltung vermitteln jede Menge Argumente zur
Verteidigung von Demokratie und Freiheit, im privaten wie gesellschaftlichen Kontext.

 

·       “Autocracy Inc. - The Dictators who want to run the world”. Erscheint im Juli 2024,
        www.anneapplebaum.com

 

·       „Die Verlockung des Autoritären - Warum antidemokratische Herrschaft so populär
        geworden ist“, Siedler, 2020

 

·       “There is no liberal world order - Unless democracies defend themselves, the forces
        of autocracy will destroy them”,
        The Atlantic,  22. März 2022

 

Wer sich bislang mit den Originalschriften aus der Frankfurter Schule um Max Horkheimer
und Theodor W. Adorno schwergetan hat, dem sei das Buch von Wolfgang Martynkewicz
empfohlen: 
Das Café der trunkenen Philosophen – Wie Hannah Arndt, Adorno und Co.
das Denken revolutionierten“. Aufbau Verlag, 2022.

 

Kurzweilig und unterhaltsam geschrieben, taugt es unbedingt als Urlaubslesetipp –
mit hoher Bildungswirkung.

 

Immer wieder gerne empfehle ich den Klassiker aller Urlaubslektüren von Douglas
Adams und Mark Carwardine: 
Die Letzten Ihrer Art – eine Reise zu den aussterbenden
Tieren unserer Erde“.

  

Herrlich ironisch beschreibt der Science-Fiction-Autor Adams, was er und der Biologe

Carwardine so alles erleben, mit den Yangtse-Delphinen, Komodo-Waranen, deutschen

Studenten, afrikanischen Mönchen und irgendwelchen schrägen Vögeln auf Neuseeland.

 

Die Antwort auf fast alles

 

Wer jetzt immer noch den Sommerblues fürchtet, dem rate ich zur eingehenden
Beschäftigung mit der „Antwort auf das Leben, das Universum und den ganzen Rest“
(deutsche Übersetzung). Die hat der Supercomputer „Deep Thought“ in „Per Anhalter
durch die Galaxis“ betörend einfach formuliert. Sie lautet: 42.

 

Ist das nun eine gute Nachricht? Auf alle Fälle verbirgt sich dahinter eine gute Geschichte.

 

In diesem Sinne, schöne Urlaubszeit. 

  

 

ps: Möhrles Monthly erscheint wieder im September.


Juni 2024

Ist das noch mein Deutschland?                               Qualitäts- versus Gesinnungsjournalismus

Vor Beginn der Fußball-Europameisterschaft haben die Medien unserer europäischen

Nachbarn ihren Blick auf Deutschland gerichtet. Von drei Veröffentlichungen war ich

besonders beeindruckt – und um eine Gewissheit reicher.

 

Nationale Verklemmung

 

„Deutschland hat sich verändert – und das besonders seit der ungesteuerten Massenimmigration“,

schreibt Eric Gujer, Chefredakteur der Neuen Zürcher Zeitung NZZ am 07.6.2024. Unter dem Titel

„National verklemmt statt selbstbewusst deutsch“ fragt sich der stramme Schweiz-Nationale im

Namen der Deutschen: „Ist das noch mein Deutschland, …“.

 

Glaubt man Gujers Beschreibungen, steht der große Kanton im Norden kurz vor dem Zusammenbruch:

Regelmäßige Meldungen über Messergewalt, politisches Schweigen zu No Go-Areas, zunehmende

Straftaten, besonders Gruppenvergewaltigungen und Messerattacken, bei denen Migranten

überrepräsentiert seien.

 

Deutschland sei ideologisch verwirrt, gehe seltsam mit Islam und Migration um. Die Linke wolle

„das Deutsche im Weltgeist auflösen“ und die Nationalkonservativen seien nie aus dem Schatten

des Nationalsozialismus herausgetreten. Zeile für Zeile jagt er seinen eidgenössischen Leser:innen

wohlige Schauer des Entsetzens über den Rücken.  

 

„Agressivly drunk nationalists“

 

„In Germany, football has made nationalism cool again…“ betitelt Fatma Aydemir, eine in Berlin

lebende Autorin des britischen Guardian am 13.06. 2024 ihren Text zur Fußball-Europameisterschaft.
Angefangen 
habe alles 2006. Damals sei das seit dem zweiten Weltkrieg zurecht gepflegte Tabu offener

nationaler Identifikation unter dem kitschigen Label „summer fairytale“ gebrochen wurde.

 

„Like Zombies“ hätten sich ihre weißen Klassenkameraden damals benommen, als „agressivly drunk

nationalists“. Aydemir zieht eine kerzengerade Linie der „rassistischen Fankultur“ von 2006 zu den

Erfolgen der AFD bei den EU-Wahlen, den „Remigrations“-Diskussionen und rechtsradikalen

Sylter Gesangsgelagen. Und damit der deutsche Nationalismus nicht noch cooler werde, hofft sie

auf ein möglichst frühes Ausscheiden des deutschen Teams.

 

„Zombie-Stadt“ Frankfurt

 

Die englische Sun gehört zu den Boulevard-Flinten, die mit besonders grobem Schrot um sich

schießen. Drastisch warnte das Blatt schon im April die britischen Fußballfans vor „5000“ Frankfurter

Drogenzombies, falls sie sich der Übernachtungsempfehlung der UEFA folgende, im Frankfurter

Bahnhofsviertel einquartieren sollten. Sie hätte die Fans mal lieber vor dem Gelsenkirchener

Nahverkehrssystem gewarnt.

 

Sind wir noch zu retten?

 

Zunächst wollte ich mich mit derlei Veröffentlichungen nicht weiter beschäftigen. Doch dann habe

ich mich gefragt: Wie gehen eigentlich unsere Medien mit derlei Deutschland-Berichterstattung um? 

 

Man müsse die Warnung der Sun ernstnehmen, meinte die Welt, womit sie nicht allein war. Und

schob gleich noch eine, von Sach- und Ortskenntnis vergleichsweise unbelastete Schauergeschichte

aus den drei betroffenen Straßenzügen des Frankfurter Bahnhofsviertels hinterher.

 

Korrekt und passiv

 

Einige regionale Medien wehrten sich zwar gegen derartige „Verzerrungen“. Im Kern jedoch repetierten

sie die Sun-Story gerade noch einmal, inklusive der stereotypen  Versäumnisvorwürfe an die Stadt,

wie es überhaupt so weit kommen konnte.

 

Und sonst? Ich hätte schon erwartet, dass die eine oder andere Edelfeder aus dem einen oder anderen

Leitmedium den Ball aufnimmt und ein paar Dinge an prominenter Stelle zurechtrückt, dem

journalistische Qualitätsanspruch, vor allem aber dem eigenen Publikum willen.

 

Qualitäts- oder Gesinnungsjournalismus?

 

Warum der Text der Guardian-Autorin Fatma Aydemir keinen öffentlichkeitswirksamen Widerspruch

in unseren Leitmedien ausgelöst hat, will ich als ehemaliger Journalist nicht so einfach akzeptieren.

 

Man bekommt schließlich nicht jeden Tag auf vergleichbarer medialer Flughöhe ein nur leidlich als

faktenbasierte Beweisführung getarntes Stück Gesinnungsjournalismus serviert, dass immerhin

die rechtsradikale Renationalisierung der deutschen Gesellschaft am Beispiel Fußball zur weit

verbreiteten Tatsachenerscheinung erhebt. Mit gutem, kritischem Journalismus hat das so viel

zu tun wie der Cottbusser Platz in Berlin-Kreuzberg mit der Vorderstadt in Kitzbühel.

 

Schweizer Deutschenmacher

 

NZZ-Chefredaktor Eric Gujer gehört schon seit langem zu den besonders spitzen Federn, wenn

es um die Verteidigung der Schweiz, des Abendlandes und zur Not auch Deutschlands gegen

Migration generell und vor allem islamische Zuwanderung geht. Er ist ein Meister der ideellen

Mobilisierung rechtsnationaler Gedankenreflexe im Kontext durchaus kluger, journalistischer Analysen.

 

Über Deutschland schreibt er Sätze wie „Was ist das für ein Land, in dem anscheinend nur Ausländer

volle Persönlichkeitsrechte und den Schutz des Rechtsstaats geniessen?“ Wenige Zeile später

vermengt er sein sprachliches Gift mit legitimen Schlussfolgerungen zu Ängsten in der Bevölkerung:

„Diese will nicht als muslimfeindlich und rassistisch verunglimpft werden, wenn sie im Zustrom von

Migranten aus einem fremden Kulturkreis ein Risiko sieht.“

 

Radikalisierung der Mittelschicht

 

Gujers feine Mischung aus Qualitäts- und Gesinnungsjournalismus zielt auf die patriotische

Radikalisierung der mittelschichtigen Wohlstandsmilieus. Offensichtlich mit Erfolg, gerade in

Deutschland. Dazu gehören besonders jene, denen es schon so lange so gut geht, dass sie

vergessen, auf welchem Fundament ihre individuellen Freiheiten, ihr rundumversichertes

Wohlergehen steht: auf der freiheitlichsten, erfolgreichsten, sichersten und offensten Gesellschaft,

die in Deutschland jemals existiert hat – und nach wie vor existiert.

 

Verteidigung ist geboten

 

Diese Gesellschaft hätte – bei allem, was im Argen liegt und zurecht kritik- und veränderungswürdig

ist – eine mutige und wirkungsvolle publizistische Verteidigung verdient. 

Die wird sie in Zukunft gewiss auch brauchen.

 


Mai 2024

Krisenkommunikation, KI und unausrottbare Dummheiten

Wer war das?

Gut vorbereiten auf die Krise möchte uns der Kommunikationsdienstleister Cision mit seinem 
neuesten Whitepaper Krisenkommunikation. Auf rund 20 Seiten steht da vieles Richtiges und
Nützliches zum Thema Krisenkommunikation drin.

Gleichzeitig aber – und ich will nicht glauben, dass dieses Dokument von erfahrenen
Krisenkommunikator:innen stammt – finden sich darin haarsträubende Kommunikationsklischees
und PR-Chimären bis hin zu regelrechten Dummheiten. Fragwürdige Empfehlungen, die scheinbar
unausrottbar schon seit Jahrzehnten die professionelle Krisenkommunikation belasten.
Hat das etwa eine KI geschrieben?

Aus dem Manual der Gutmenschen

Fangen wir bei meinem Lieblingsthema an: Transparenz. In Kapitel III steht unter der Überschrift
„Was ist Krisenkommunikation?“ der Ratschlag: „Transparenz schaffen. Durch offene und ehrliche
Kommunikation kann Vertrauen aufgebaut werden. (…)“. Geradezu furchterregende, diese
Buzzword-Kombination aus dem Krisenmanual des korporativen Gutmenschentums.

In der ersten Phase einer echten Krise herrscht in der Regel Chaos, mal mehr, mal weniger.
Unbedingte Priorität haben essenzielle Handlungen, die vor allem dazu dienen, Schaden an
Menschen, Tieren und Umwelt zu minimieren und zu beenden.

So viel wie nötig

Erste Statements fokussieren möglichst einfach auf zentrale, situationsbezogene Kerninhalte:
Wir haben die Krise erkannt. Wir wissen, was zu tun ist, um Schaden abzuwenden. Heißt
mit Priorität: Punkt 1, 2 und 3, zum Beispiel Verhaltensempfehlungen, Schutzmaßnahmen etc.
Über den Fortgang der Situation informieren wir kontinuierlich. Mehr muss selten sein.

Für solche Lagen zu empfehlen, „offen“ und „ehrlich“ zu kommunizieren, um „…den Betroffenen
Einblicke in die Situation zu geben…“, ist schlicht fahrlässig.

Abgesehen von notwendigen, lagebezogenen Erstinformationen können in der ersten heißen
Krisenphase selten schon belastbare Aussagen zum krisenauslösenden Problem, zu den
Hintergründen oder Verantwortlichkeiten getätigt werden. Auch aus rechtlichen Gründen ist
zurecht äußerste Zurückhaltung geboten.

Transparenz ist Strategie, kein Menschenrecht

Richtig ist, dass die Öffentlichkeit ein Recht auf Information hat, zumal bei krisenhaften Ereignissen.
Vor allem aber hat Sie ein Recht auf belastbare und wahrheitsgemäße Information. Erst dann kann
diese auch Vertrauen stiften.

Transparenz ist dabei weder kommunikativer Selbstzweck noch Menschenrecht. In der Krise stellt
sie eine strategische Größe dar. Die undifferenzierte Empfehlung zur Transparenz ist nicht nur
dummes Zeug, sondern noch dazu gefährlich.

Gute Krisenkommunikation hat viele Facetten

Transparenz wird an anderer Stelle richtig und wichtig. Wenn es etwa darum geht, konkret und
glaubwürdig zu vermitteln, wie das eigene Krisenmanagement arbeitet. Arbeitet es gut, lässt
sich damit für alle Beteiligten und Betroffenen nachvollziehbar die Botschaft verbinden:
Wir bekommen das in den Griff. In bestimmten Krisenphasen ist das die wichtigste.

Im Übrigen kann zum „Wie“ des Krisenmanagements oft sehr viel konkreter und damit auch
vertrauensstiftender kommuniziert werden, als viele glauben oder sich trauen. Nur bitte nicht
aus falsch verstandener Offenheit von dem, was nicht läuft, auch noch mehr verbreiten.
Dazu gerne mehr an anderer Stelle.

Kognitive Atmungsübung

Leider sind das nicht die einzigen Fehlgriffe in dem Whitepaper. Zum Thema „Kommunikationshoheit“
steht auf Seite 17 ein Satz ganz besonderer Qualität: „Da die Medien in jedem Fall berichten, macht
es keinen Sinn, Informationen zurückzuhalten.“

Einatmen!

Eine Seite weiter geht es noch besser: „Niemand ist glaubwürdiger als der Chef selbst, deshalb ist
Krisenkommunikation Chefsache! Er muss – gut vorbereitet durch das Kommunikationsteam – die
Informationsvermittlung nach innen und außen persönlich übernehmen. (…).“

Ausatmen!

Derart undifferenzierte Aussagen finden sich seit Jahrzehnten in Publikationen, Vorträgen und
Äußerungen zur Krisenkommunikation. Sie waren schon vor 25 Jahren irreführend und sind es
auch heute noch. Der Satz aus der angelsächsischen Krisenkommunikation „Don´t burn your
CEO in the first ten minutes“ ist vermutlich noch viel älter.

Wo der Mensch noch besser ist.

Also kann dieses Whitepaper doch nur von einer KI formuliert sein. Das Ergebnis würde nicht
verwundern. Bekanntlich verbinden aktuelle KI-Modelle auf äußerst eloquente Art und Weise
Richtiges und Falsches wunderbar schlüssig miteinander. Der Algorithmus verarbeitet alle
verfügbaren Daten, über Jahre weit verbreitete PR-Stereotype allemal.

Einspruch, sagt die KI-Wissenschaftlerin. Nur weil etwas schlecht ist, könne man das nicht
gleich der KI in den Algorithmus schieben. Vielleicht sei das Ergebnis gerade ein Indiz dafür,
dass es eben nicht von einer guten KI stamme. Immerhin fehle jede „kreative Halluzination“.

Stammt das Cision-Whitepaper etwa doch aus menschlicher Fertigung?

Durchatmen!


April 2024

TikTok, Olaf und die Aktentasche


Ist es eine gute Idee, dass Kanzler Olaf Scholz nun auch auf TikTok präsent ist?

Durchaus. Ist es eine gute Idee, dass er dort selbst über sich spricht? Wer ist

bloß auf die Idee gekommen?

 

 

Wie funktioniert TikTok?

 

Ich habe mir die aktuell verfügbaren Olaf-Spots auf TikTok mal angeschaut. Und ich

frage mich, ob die, die sich das Olaf-Konzept für TikTok ausgedacht haben, dessen

Wirkmechanismus wirklich verstanden haben. 

 

TikTok ist eine Aufmerksamkeitsplattform. Sie funktioniert vor allem über emotionale

Wirkeffekte, über Vereinfachung, Zuspitzung, Sensationen und Superscheiß: witzig,

schräg, schnell, flippig, kurz, peinlich, cool, übel, durchgeknallt, agitativ, häufig auch

nur tragisch.

 

Mehr als andere Social Media-Plattformen ist das chinesische Netzwerk damit zur

Ego-Show-Bühne Nummer Eins geworden. Als mediale Hippness-Wunschmaschine,

als interkulturell gerade mal so tolerierbare, globale Freakshow des juvenilen

Mainstreams.  

 

Digitaler Stardust schon ab 100 Likes.

 

Dort kann sich ausprobieren, wer auch nur mal ein bisschen Star, ein bisschen schräg

sein will. Dabei korreliert die Lust der Protagonist:innen an der hausgemachten

Selbstentblößung mit den wohligen Fremdschäm-Schauern, die dem Publikum im Netz

millionenfach den Rücken runter laufen. 

 

Es funktioniert weil es wirkt. Mittlerweile sind Unternehmen, Organisationen und auch

politische Akteur:innen auf dem Netzwerk präsent. Sie alle wollen das kapitale 

Verbreitungs-Momentum einer neuronal vernetzten, sozialen Kommunikationsplattform

nutzen, um ihre Botschaften an junge Zielgruppen zu bringen.

 

Wenig verwunderlich, dass die, die den Wirkmechanismus am besten verstehen und

bedienen, auch gute Erfolge erzielen. Die AFD zum Beispiel. Wahr? Falsch? Egal.

Hauptsache, es bringt die Follower zum Rasen, kreiert mentale Mitnahmeeffekte zur

 Dauermobilisierung.  

 

Olaf und die Aktentasche.

 

Und was machen die TikTok-Olaf-Macher mit Olaf? Sie setzen ihn auf einen Fenstersims,

auf dem er erkennbar nicht gut sitzt. Locker geht anders. Sie lassen ihn über seine

(spießige) Aktentasche reden. Was bitte soll das transportieren? Er liest die „Fragen an
den Kanzler“ vom iPad ab. Wirkt gestellt, gesteuert, 
geradezu unbeholfen.

 

Schon der Ansatz ist grottenfalsch.

 

Wo genau jetzt liegt der Fehler? Sie lassen ihn das machen. Olaf über Olaf reden.
Sich 
selbst inszenieren. Was Olaf Scholz, für alle erkennbar, nicht gerne macht. Noch

dazu auf der für seinen Stil völlig falschen Bühne.

 

Die Kommentare sprechen für sich. Social-Media sozialisierte TikTok-User sortieren

sofort aus, was sie für glaubwürdig oder aufgesetzt halten, was gestellt oder unverstellt

auf sie wirkt. Das wird zum Teil der Botschaft, vermutlich zu dem, der am meisten verfängt.

 

So funktioniert Social Media. Nicht die Ich-Protagonist:innen machen sich zum Star

oder Looser, sondern die, die ihnen zuschauen, sie überschwänglich hypen oder

gnadenlos niederklicken. 

 

Olaf auf TikTok? Das geht schon.

 

Der Kanzler auf TikTok geht schon, aber anders. In dem TikToker:innen auf TikTok über Olaf

reden, mit seinen Leuten, mit ihm, von mir aus auch über seine Aktentasche. Erst recht

über das, was Olaf kann, was er tut, was ihn auszeichnet, nahbar, sympathisch macht. 

 

Zum Beispiel: Warum er Macht kann und trotzdem ungern Machtworte spricht. Dass er

seinen Laden eigentlich ganz clever führt. Wie sympathisch seine Schrullen und wie smart

seine Strategien sind. Warum er ein durch und durch integrer Kerl ist.

 

Warum er die AFD verabscheut, und als Kanzler verhindern will, dass die mit ihrem

Programm den Deutschen, nicht zuletzt den eigenen Stammwähler:innen, 

Wohlstandsverluste einbrocken würden, von denen die heute noch nicht mal träumen. 

 

Mobilisierung der Falschen?

 

Guten Stoff für gute Olaf-Stories gibt es sicher noch mehr. Zur TikTok-Zugnummer

allerdings wird Olaf nur, wenn andere TikToker:innen ihn dazu machen. Könnte ja Teil
einer 
klugen Third-Party-Strategie sein. Nur mal so als Idee.

 

Ob die gewählte Strategie bei jungen Wählerinnen wirklich erfolgskritisch verfängt?

Ich glaube kaum. Nicht ausgeschlossen, das sie sogar nach hinten losgeht. Jene agitiert,

die man garnicht meint und auch nicht will. Bestenfalls ist den jungen Ampel-Hassern

der Olaf auf TikTok einfach nur egal.  

 

Der Albrecht Metzger-Effekt.

 

Während ich mich durch die Clips geklickt habe, musste ich an Albrecht Metzger denken.

Die Älteren werden sich vielleicht erinnern: Metzger hat zwischen 1977 und 1986 die

legendären Rockpalast-Nächte in der Grugahalle in Essen moderiert.

 

Mit seinem ungelenken Denglish „Tschörmen Televischen praudlii presenz“ hat er in der

europaweit  im TV übertragenen Kultveranstaltung innerhalb kürzester Zeit zum Hass-

und Witzobjekt der Pop-und Rockszene gemacht. Das war nicht seine Bühne. Er spielte
sonst beim Berliner Kinder- und Jugendtheater "Rote Grütze".

 

Im Interview mit dem ebenfalls legendären Frankfurter Stadtmagazin Pflasterstrand

bekannte Metzger, wie sich das jedesmal angefühlt hat, auf die Bühne zu gehen und

„zehntausend Arschlöcher denken: Guck dir dieses Arschloch an“.  

 

Im gleichen Gespräch hat Metzger damals das Ende seiner Moderatorentätigkeit für

die „Rockpalast-Nächte“ angekündigt. Wenn das mal kein schlechtes Omen ist.   

 


März 2024

CommTECH braucht New Work, Fussball und modernen Tanz


Erhellend und erschütternd zugleich: der CommTECH-Index Report 2023 der

gleichnamigen Arbeitsgemeinschaft der Deutschen Public Relations Gesellschaft (DPRG).

Das hat auch mit New Work, Fussball und modernem Tanz zu tun hat.  

 

 

Laut CommTECH Index Report 2023 sind für die Vorbereitung von CommTECH-Investitions-

entscheidungen 71 % der Mitarbeiter:innen aus dem Bereich Kommunikation verantwortlich.

Ist das nun eine gute oder eine schlechte Nachricht? Lassen wir das zunächst mal offen.

 

IT-Abteilungen sind darin gerade mal zu 28 % involviert, Marketing in nur 16 Prozent der

Unternehmen. Viele Investitionsentscheidungen würden noch mit der „alten Denke“ geplant

und getroffen, schlussfolgern die Index-Autor:innen: „Damit werden Digitalisierungsbarrieren

nicht abgebaut, sondern historisch konserviert“.  

 

Leute, so wird das nichts. 

 

Ende der 90er Jahr. Meine ehemalige Agentur beginnt für die Unternehmenskommunikation

eines deutschen Automobilherstellers zu arbeiten. Wir fragen die Abteilung Corporate Image

nach den Markenrichtlinien. Wochen später die Auskunft: „Die hat das Marketing“Ganz

vorsichtig fragen wir nach dem Problem: „Die geben die uns nicht“. Solche Sätze bleiben haften. 

 

Ok, technisch sind wir weiter, aber mental? Wer CommTECH und Digitalisierung sagt und nur 

Daten, Tools und Technik, noch dazu nur für den eigenen Bereich meint, durchdringt die Qualität

der Transformation nicht, dir wir gerade erleben. Dabei geht es um so viel mehr als nur das

Aufbrechen von Datensilos oder die Implementierung smarter Tech-Tools.

 

Digitalisierung ist viel mehr als Tools und Technik

 

Laut Digitalisierungsindex 2023 des Instituts der Deutschen Wirtschaft stagnierte die

Digitalisierung der deutschen Wirtschaft im Vergleich zu 2022. Das läge zum Beispiel an

fehlenden Hochgeschwindigkeitsnetzen, mangelnder Investitionsbereitschaft und zu wenig

Fachpersonal, heißt es. Ja, auch. Aber ist das allein der Grund?

 

Wirtschaft und Gesellschaft, Markt- und Meinungsbildung, Stakeholderöffentlichkeiten und

Communities entwickeln und bewegen sich schon lange hochgradig vernetzt. Individuelles

und kollektives, privates und professionelles Kommunikationsverhaltens verschränken sich

immer weiter miteinander. Alle nutzen gleiche oder ähnliche Instrumente mit vergleichbaren

Eigenschaften und Gesetzmäßigkeiten. 

 

Die kommunikative wird zur kulturellen Revolution.

 

Die Folge: eine massive Dynamisierung der kommunikativen Beziehungen zwischen Individuen

und Öffentlichkeiten, zwischen Institutionen, Unternehmen und Markteilnehmer:innen. Wir
erleben 
nichts Geringeres als eine kommunikative Revolution mit tiefgreifenden Auswirkungen

auf die Leistungs- und Kollaborationskultur in Wirtschaft und Gesellschaft.

 

Das scheint viele Entitäten noch nicht wirklich zu belasten. Wie anders ist erklärbar, dass

Digitalisierung nicht selten noch immer bedeutet: Marketing, Corporate, Vertrieb etc. machen

nach wie vor ihr eigenes Ding. Mit der IT wird erst geredet, wenn es nicht mehr anders geht.

Und Reflexionen über neue Work- und Knowledgeflows findet vorsichtshalber ohne

Personalabteilung statt.

 

Andersherum wäre vermutlich besser: Je vernetzter, interaktiver und responsiver

Öffentlichkeiten und Märkte werden, desto marktähnlicher müssten Geschäfts- und

Organisationsmodelle aufgelegt und mit kompatiblen Produktivstrukturen ausgestattet

werden. Im Buzzword-Sprech: Digitalisierung ohne New Work ist wie Fussball ohne Tore.

Du kannst einfach nicht gewinnen.

 

Arbeit und ihre Organisation radikal kommunikativ denken

 

Wo anfangen? Am Besten bei der Gestaltung zukünftiger Kommunikationseinheiten:

Interne Denk- und Workflows zur Rezeption, Reflexion und Kommunikation orientieren sich

konsequent an der jeweils relevanten, externen Informations- und Meinungsbildungsdynamik. 

 

Die Teams arbeiten interagierend, fluid und in hohem Maße responsiv, miteinander und in

Bezug auf die Dynamik zwischen inneren und äußeren Entwicklungen. Also mal breit, mal

selektiv, mal laut, mal leise, mal klein, mal groß, vor allem aber schnell, genau und wirkstark.  

 

Die  professionelle Kommunikation hat schon einiges davon, da wird längst nicht alles neu.

Wir sollten sie nur noch radikaler kommunikativ denken. Als eine Art Nervensystem, als

kreativen und produktiven Organismus, der auch genau so gemanagt und organisiert wird.

 

Mehr interdisziplinäre Quality Circle

 

Nehmen wir das aktuelle Lieblingsthema Künstliche Intelligenz. Mit dem „alle reden darüber,

nur nicht miteinander“ kommen wir nicht weit, weder bei der Potenzialerschließung noch im

Managen der Risiken. Und ja, es gibt sie, die mutig mandatierten, interdisziplinär und

hierarchieübergreifend arbeitenden Quality Circles, besetzt mit Fachleuten aus Corporate

Communications, Marketing, IT, HR und wer da eben noch dazugehört. Gerne mehr davon.

 

Neuronale Kommunikation, ein neues Modell

 

Der Paradigmenwandel ist in vollem Gange: Kommunikation wird neuronal. Dann muss sie

auch so gedacht und gemacht werden. Was für eine faszinierende Perspektive für die

Kommunikation, die weit über sie selbst hinausweist. Mit erheblichen Konsequenzen.

 

Sie erfordert die Anpassung tradierter Arbeits- und Hierarchiestrukturen an die systemische

Logik einer unerbittlich vernetzten Welt: Work- und Kommunikationsflows verschmelzen

endgültig miteinander, aus Personal- wird personale Kommunikation, Social Media mutiert

zum Management- und Führungsinstrument und so weiter…

 

„Innovation ist nur ein anderer Ausdruck für Bewegung“

 

Ein ikonischer Satz. Er beschließt ein Interview mit dem Choreographen und großen Innovator

des modernen Tanzes, William Forsythe. Nachzulesen in dem Sammelband „Wie kommt das

Neue in die Welt?“, 1997 herausgegeben vom ehemalige Siemens-CEO Heinrich von Pierer

und Bolko von Oetinger, damals Boston Consulting Group. Mein Lesetipp für heute. Der

Wiedererkennungswert der Themen ist erschütternd - und erhellend zugleich.

 

Sorgen wir also für Bewegung und sind schon heute gespannt auf den ComTECH-Index Report 2026.

 


Januar 2024

„Wenn du alles im Griff hast,…“

 

Was haben Digitalisierung, Deutschlandgeschwindigkeit und neuronales Denken mit
Estland, Rumänien 
und Mario Andretti zu tun?

 

 

 

„Wir wollten eine interne Kommunikation entwerfen, die auch strategische Themen

für Mitarbeitende in der Produktion greifbar macht“. 

 

Corporate-Botschaften nicht nur im Handelsblatt-, sondern auch im Bild-Stil konsistent

vermitteln, das ist nicht so trivial, wie es klingt. Florian Pitzinger, Head of Global

Communications bei Heidelberger Druckmaschinen und seine Leute lassen sich dabei von
Künstlicher Intelligenz helfen, genauer gesagt, einer Kombination aus DeepL Write und Chat GPT
.

 

Sein Zwischenfazit: Richtig gute Hilfsmittel, wenn sie richtig getestet, gelernt und verstanden

werden. Wozu es vor allem Leute brauche, die sich “rein-nerden“. Also wirklich verstehen,

womit sie es zu tun haben. Nachzulesen im PR-Report 6/23.

 

 

Digitale Transformation: ein großes Missverständnis.

 

Es gehört zum Wesenszug jeder technologischen Transformation: Solange aus der

Perspektive traditioneller Techniknutzung gedacht und gehandelt wird, bleiben die wahren

Potenziale ungenutzt und tatsächliche Risiken unter- bzw. überschätzt. Die eigentliche

Herausforderung unserer Zeit lautet also: Perspektivenwechsel.

 

Zu viele Leute glauben immer noch, Digitalisierung bedeute, Dokument einzuscannen,

damit sie in der Ordnung A bis Z und 1 bis unendlich abgespeichert und per Email verschickt

werden können. Was für ein Missverständnis.

 

 

Unerbittlich analog

 

Besonders dramatisch ist es überall dort, wo Verwaltung oder Bildung draufsteht. Doch auch in

der Wirtschaft, die vieles, aber bei Weitem nicht alles besser kann, rühmen sich Mittelstand und
Großindustrie zwar ihrer digitalen Strukturen. Gearbeitet und gemanagt wird 
damit vielfach
noch unerbittlich analog, statisch und hierarchisch. 

 

„Wer darf wieviele Dokumente unterschreiben?“ Die Durchsatzgeschwindigkeit vieler

Abstimmungsprozesse leide immer noch unter einer anachronistischen Hierarchie- und

Machtorganisation, klagte vor kurzem der General Counsel eines deutschen Konzerns.

Drastischer formulierte es ein IT-Kollege: „Ob analog oder digital. Ein Scheißprozess bleibt

ein Scheißprozess“. 

 

 

Digitalisierung mit der Postkutsche

 

Neulich abends gerieten meine Frau und ich zufällig in die HeuteShow. Deren Reporter

Lutz van der Horst und Fabian Köster waren in Estland unterwegs. Sie wollten mal sehen,

wie weit die Digitalisierung dort im Vergleich zu Deutschland vorangeschritten ist. Dabei

verging selbst dem spaßgestählten Reporter-Duo das Lachen.

 

Das Problem ist nicht, wie gut die Esten in der Digitalisierung sind. Das Problem ist, wie

schlecht wir sind. Beispiel BAföG. Anträge können immerhin schon online gestellt werden.

Und die Antworten? Erfolgen auf Papier. Alle Dokumente werden ausgedruckt und händisch

in Ordner verstaut. 

 

Was angesichts untereinander inkompatibler Softwaresysteme der Bundesländer durchaus

von praktischem Nutzen ist. Wechseln Bafög-Empfänger:innen das Bundesland, gehen deren

Akten auf Wanderschaft, mit der motorbetriebenen Postkutsche sozusagen.

 

 

Rumänien als Vorbild?

 

Der Abend war damit noch nicht gelaufen. Meine Frau, sie ist Anwältin, erzählte mir noch

von einem rumänischen Vater, der sich wunderte, dass sie ihm keinen Link zum hierzulande

anhängigen Sorgerechtsverfahren schicken konnte. Den Stand des Verfahrens in Rumänien

hatte er schon einsehen können: per Handy. Wir waren kurz davor, den Dry January

schluckartig zu beenden. 

 

 

Der Perspektivenwechsel beginnt im Kopf

 

Natürlich braucht es flächendeckendes Glasfaser und WLAN. Doch Infrastruktur alleine

generiert noch keinen einzigen vernetzten, integrierten, kollaborativen und agilen Workflow.

Das Denken muss sich ändern. Die Entbürokratisierung beginnt im Kopf. Auf den Reformdruck

von oben sollten wir dabei nicht warten. So, wie der Kanzler von „Deutschlandgeschwindigkeit“

spricht, klingt das eher wie eine Drohung.

 

 

Die digitale demokratische Gesellschaft denkt und arbeitet vernetzt.

 

Was wir benötigen, sind konkrete, positive Erfahrungen: im Unternehmen, in der Schule, im

Gerichtsverfahren, bei der Steuer, in der Arztpraxis etc. Die Formel heißt: möglich machen,
sich "rein-nerden". 
Und dafür die Voraussetzungen schaffen. Vor Ort, dezentral, dort, wo kreative
Ideen auf 
Herausforderungen treffen, Lösungen entstehen, auf die noch niemand gekommen ist.  

 

Möglich wird das jedoch nur mit einer radikalen technischen Rahmensetzung, die auf den

ersten Blick so garnicht demokratisch klingt. Profaner ausgedrückt: mit einer über Landes-

und Organisationsgrenzen hinweg konsequent durchgesetzten, in sich kompatiblen

IT-Infrastruktur ohne System- und Medienbrüche. Das ist kein Widerspruch. Aber eine echte,
ich glaube sogar, die Herausforderung überhaup
t.

 

 

Neuronale Vernetzung als gesellschaftliches Modell 

 

Die demokratische, vielfältige, heterogene und freiheitliche Gesellschaft der Zukunft wird eine

vernetzte sein, in der denken, entwickeln, kommunizieren und arbeiten eher einer neuronalen,
einer fluiden 
denn einer statischen Ordnungslogik folgt. 

 

Natürlich geht das auch in einem föderalen System, inklusive seiner notwendigen Mechanismen

zum Schutz der individuellen Integrität. Vermutlich stehen wir, zumindest in den demokratisch

verfassten Gesellschaften, vor einem echten New Deal in der Verknüpfung von gesellschaftlichem

und technologischem Fortschritt. Und vielleicht war die Chance noch nie größer, dem

nahezukommen, was der Bildungsphilosoph Heinz-Joachim Heydorn Anfang der 1970er Jahre

als Forderung an die Bildung in Deutschland postulierte: „Ungleichheit für alle“. 

 

 

 

„Wenn du alles im Griff hast, …“

 

Fürs Erste wäre ich allerdings schon zufrieden damit, wenn wir uns bei der Digitalisierung von

Wirtschaft und Gesellschaft den Satz des ehemaligen Formel Eins-Rennfahrers Mario Andretti

zu Herzen nehmen würden: „Wenn du alles im Griff hast, bist du zu langsam.“

 


November/Dezember

Klima, Kriege, Haushalt, Pisa - Risikofaktor menschliche Intelligenz

 

Ein Jahr wie ein Jahrhundert. Keine Sorge, das wird kein Jahresrückblick. Momentaufnahmen nur, und zum Schluss für die Festtage noch ein paar geistige Nahrungsmittelergänzungen. 

 

Zynismus als Kollektivräson

 

Gäbe es einen Preis für besonders verabscheuungswürdigen Zynismus, für mich stünde der Preisträger für 2023 fest. Nicht Putin. Der wird doch tatsächlich nur zweiter.

 

Auf die Frage, warum die Tunnel im Gaza nicht auch zum Schutz der Zivilbevölkerung genutzt würden, antwortete ein Hamas-Offizieller im libanesischen Fernsehen so: “The tunnels are for us [Hamas]. The citizens in the Gaza Strip are under the responsibility of the United Nations.” (Quelle: The Guardian vom 03.11.2023)

 

Professioneller Autismus

 

Selbstverständlich nicht vergleichbar, aber auf eine ganz eigene Art zynisch wirkten die Nachrichten über Bonuszahlungen und Bonussystem für Vorstand und Führungskräfte der Deutschen Bahn. Dass in Einzelbereichen gute Arbeit geleistet wird, enthebt einen Vorstand nicht von der Gesamtverantwortung für die Kernleistungen eines Unternehmens. In Sachen Pünktlichkeit und Kundenzufriedenheit ist und bleibt die Bahn-Bilanz desaströs. 

 

Nicht eben besser machen das die Informationen über ein neues Vergütungssystem für Führungskräfte des halbstaatlichen Mobilitätsanbieters. Darin soll die Erreichung „kurzfristiger Ziele“, zum Beispiel besagte Pünktlichkeit, im Verhältnis zu den Langfristzielen bei der Bonusfestlegung weniger stark ins Gewicht fallen. Wer auch immer sich das ausgedacht hat, das grenzt schon an professionellen Autismus. 

 

Künstliche vs. menschliche Intelligenz 

 

Die Nachricht, dass Chat GPT seine aktuellen Informationen in Zukunft von den Springer-Medien Welt, Bild und Business Insider erhält, beruhigt auch nicht wirklich. Immerhin verdeutlicht das einen Aspekt, der bei den aufgeregten Debatten um Wohl und Wehe von KI irgendwie ins Hintertreffen geraten ist: Vertrauenswürdig leistungsstarke KI-Systeme werden noch sehr, sehr lange auf menschlich produzierten und kuratierten Content angewiesen sein.  

 

Ist da nun die gute Nachricht oder doch eher das eigentliche Problem? Nehmen wir mal die seitenlangen Sammlungen „nützlicher Prompts“ zur professionellen Nutzung von ChatGPT, die derzeit in diversen Branchenmagazinen veröffentlicht werden.

 

Irreführung für Leichtgläubige

 

Einer der Prompts, die ich getestet habe, sollte ChatGPT einen Vorschlag zur Wiederherstellung eines Markenimages nach negativer Presseberichterstattung entlocken. Wenig überraschend folgt der unspezifisch formulierte Fragestellung ein wild zusammengestellter, von PR-Klischees strotzender, nachgerade irreführender „Leitfaden“. Dessen Anwendung würde leichtgläubige Kommunikator:innen vermutlich in eine tiefe, professionelle Depression stürzen. Und an das Wort Intelligenz sollten wir dabei noch nicht einmal denken.

 

Das Problem bleibt: der Mensch

 

Machen wir uns nichts vor. Auf sehr, sehr lange Sicht bleibt bei den großen wie den kleinen Themen der größte Risikofaktor noch immer der Mensch. Zumindest für Erleichterung bei der Bewältigung manch alltäglicher Herausforderungen hoffe ich in 2024 jedoch sehr auf die Potenziale der KI. 

 

Ich möchte einfach keine Minute meiner Lebenszeit mehr mit dem Versuch verschwenden, dem strunzdummen Chatbot von UPS klarzumachen, warum er/sie/es das erwartete Weinpaket nicht zum zweiten Mal an den Absender zurückzuschicken soll. 

 

Erstens: Die Hausnummer existiert wirklich. Zweitens: Am angekündigten Liefertag war jemand zu Hause. Drittens: eine Info erfolgte weder per Mail noch per Zettel im Briefkasten. Nur eines hat funktioniert: Via App konnte ich das ganze Drama jederzeit nachverfolgen. Auch, wie beim zweiten Anlieferversuch die damit betraute, offensichtlich übermotivierte Person protokollierte, sie habe schon einen Tag vor dem angekündigten Liefertermin geklingelt. 

 

Kommt die digitale Anarchie?

 

Das Problem auch hier: als Lieferkette getarntes menschliches Versagen. Allerdings hat meine Hoffnung auf Erlösung versprechende KI-Lösungen, zum Beispiel bei der Zustellung von Weinpaketen, kurz vor dem großen Christenfest einen herben Dämpfer erhalten. 

 

Im Gespräch mit einer KI-Wissenschaftlerin über die Besonderheiten der aktuellen KI-Modelle erwähnte diese eher beiläufig, wir sollten nicht erwarten, dass die KI auf die gleiche, wiederholt gestellte Frage immer auch die gleiche Antwort gäbe. Was ja logischerweise in der Natur des „Machine Learning“ läge. Spontis und Anarchisten dieser Welt, ihr braucht nichts mehr rauchen. Eure Zeit kommt erst noch.  

 

Trotz alledem: Konsequente Zuversicht.

 

Klima, Kriege, Haushalt, Pisa. Ein Jahr, das wirkt wie ein Jahrhundert. Offensichtlich dreht sich die Welt tatsächlich immer schneller. Bleiben wir, frei nach Tagesthemen-Moderator Ingo Zamperoni, dennoch zuversichtlich. Und nähren uns konsequent mit klugen Gedanken zur Lage, im Kleinen wie im Großen. 

 

In diesem Sinne empfehle ich Ihnen/Euch für das neue Jahr, vielleicht sogar schon für die hoffentlich geruhsamen Festtage, zu den kulinarischen Genüssen noch ein paar intellektuelle Nahrungsmittelergänzungen. 

 

„A Russian Journal“, von John Steinbeck und Robert Capa, 1947. 

Der berühmte Autor und der berühmte Fotograf reisten 1947, also kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs, entlang der so genannten Wodka-Route nach Moskau, Kiew und Tiflis. Sie haben in Worten und Bildern festgehalten, was sie gesehen und erlebt haben, nicht mehr, nicht weniger. Vielleicht ist „A Russian Journal“ gerade deswegen ein so bemerkenswertes Zeitdokument geworden. Und angesichts der neoimperialen Kriegstreiber im Kreml von hoher Aktualität.

 

„Historisch haben beide recht“ - Interview mit Hanno Loewy, Direktor des Jüdischen Museums Hohenems, zum Gaza-Krieg in der österreichischen Tageszeitung Der Standard, 25. November 2023. Ein wichtiger Beitrag zur aktuellen Situation in Nahost.

 

„There is no liberal world order“ - die Historikerin Anne Applebaum in The Atlantic im März 2022 über die Notwendigkeit der demokratischen Gesellschaften, sich aktiv zu verteidigen. Kluge Gedanken zur Idee der „wehrhafte Demokratie“ auch jenseits militärischer Aufrüstung. Liegt zwar hinter der Paywall. Mit Blick auf die US-Präsidentschaftswahlen und deren möglichen Auswirkungen lohnt ein Jahresabo von The Atlantic unbedingt.

 

„Erziehung zur Mündigkeit“ - In dem Anfang der siebziger Jahre aus Vorträgen und Gesprächen entstandenen Band formuliert der berühmte Soziologe und Mitbegründer der Frankfurter Schule, Theodor W. Adorno, seine paradigmatische Aussage, die aktueller und zugleich universeller nicht sein könnte: „Die Forderung, daß Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung. Sie geht so sehr jeglicher anderen voran, daß ich weder glaube, sie begründen zu müssen noch zu sollen." 

 

 

Allerbeste Grüße und ein gutes, neues Jahr.

Hartwin Möhrle

 

Oktober

Hamas, Israel, Corporate Germany und die             deutsche Staatsräson.

 

 

“Corporations are not political entities that have to speak out on every issues“. 

 

Der US-amerikanische Ivy League-Professor Paul Argenti von der Dartmouth’s Tuck School of Business, New Hampshire, dürfte vielen Unternehmer:innen, Manager:innen und vor allem Corporate Communication-Verantwortlichen aus der Seele sprechen. Politik? Lieber nicht. 

 

Selbst nicht in diesen Zeiten? Der Massenmord der Hamas-Terroristen, ihre anhaltenden Raketensalven auf Israel, die Reaktion der israelischen Armee, beides verknüpft mit zigtausendfachem Leid von Zivilisten in Gaza und Israel. Das hat Ende Oktober über hundert deutsche Unternehme dazu bewogen, sich hinter den Aufruf „Nie wieder ist jetzt“ zu stellen. Ein deutliches Signal gegen Judenhass und Antisemitismus.

 

Nicht nur in Deutschland. Professors Jeffrey Sonnenfeld von der Yale School if Management trackt seit dem 7. Oktober Unternehmen, die Statements oder Anzeigen veröffentlicht haben, in denen sie den Angriff der Hamas auf Israel verurteilen. Eine stattliche Liste mit großen Namen.  

 

Propaganda, Desinformation, Fälschung

 

Reicht das? Unter dem Eindruck der Kriegsbilder und dem menschlichen Leid in Gaza verpufft die öffentliche Wirkung dieser Statements geradezu. Mehr noch: Israel und „der Westen“ werden von einer neuen Propaganda-Melange aus radikal-islamistischen Regierungen und Organisationen, antiwestlich ideologisierten Autokratien und neulinkem Fundamental-Protest für alles Böse dieser Welt verantwortlich gemacht. 

 

Was kann, was soll die Wirtschaft tun?

 

Das sei doch die Stunde der Politik, sagen viele in Corporate Germany. Und hoffen darauf, nicht noch mehr in den Strudel öffentlicher Meinungsbildung hineingezogen zu werden.   

 

Yale-Professor Sonnenfeld stellt aus US-amerikanischer Perspektive ein interessante These auf. Ein Teil des Drucks, sich zu äußern, könnte von der Rolle herrühren, die Wirtschaftsführer in einer Zeit des schwindenden Vertrauens in Politiker, Medien und den Klerus spielen. "CEOs sind zu Säulen des Vertrauens in der Gesellschaft geworden.“ Das mag hierzulande noch ein wenig anders sein. 

 

Wozu sagen wir etwas? Und wozu auch nichts.

 

Sonnenfelds Aussagen stammen aus einem Artikel der US-amerikanischen Zeitschrift „The Atlantic“ vom 25. Oktober: „The Murky Logic of Companies´ Israel-Hamas Statements“. Über den aktuellen Konflikt hinaus behandelt Autorin Lora Kelley darin die generelle Frage, zu welchen gesellschaftspolitischen Themen sich Unternehmen überhaupt äußern sollten oder auch nicht. 

 

Nicht zuletzt der Druck aus den eigenen Belegschaften, sich zu sozialen und politischen Themen zu äußern, habe dazu geführt, dass sich mehr und mehr Unternehmen zu aktuellen Themen und Ereignissen äußern.

 

Stellung nehmen. Wer will das überhaupt?

 

Dabei sei statistisch ziemlich unklar, so Kelley, ob die Mehrheit der Konsument:innen das überhaupt wolle. Laut einer Statista-Umfrage in 2018 in Deutschland waren jedenfalls über 58 % der Befragten der Meinung, Unternehmen sollten sich in politischen Fragen neutral verhalten. Damals war gut ein Drittel dafür, dass Unternehmen Haltung zeigen sollten. 

 

Gesellschaftliche Verantwortung ist nicht teilbar.

 

Was heißt das nun? In keinem Code of Conduct fehlt heutzutage der Bezug zur gesellschaftlichen Verantwortung des eigenen wirtschaftlichen Handelns. Geht es um´s Klima, Gleichberechtigung, Diversity, Compliance und gegen Gewalt ist die Haltung schnell artikuliert. Gut so. 

 

Gilt das dann nicht umso mehr in einer Situation wie jetzt? Ohne wenn und aber? Schließlich geht es um eine Terrororganisation und ihre Unterstützer, die nicht weniger als die Auslöschung des Staates Israel und der Juden generell propagieren und praktizieren? Was nichts anderes sei, so der Grünen-Politiker Dany Cohn-Bendit in der F.A.Z., als „die Neuformulierung der Endlösung, die die Nazis anstrebten“.

 

„In Gefahr und größter Not…“

 

Nur eindeutige Positionen legitimieren auch zu Kritik, etwa an der „verheerenden ideologischen und politischen Einstellung der Netanjahu-Regierung“ (Cohn-Bendit). Allgemeinplätze gegen Gewalt und Krieg, die Täter und Taten nicht beim Namen nennen, sind wertlos. Das ist wie Biertrinken zum Schutz des Regenwalds. Die Enthaltung der Bundesregierung bei der UN-Resolution am 29. Oktober ruft schmerzhaft einen Satz von Filmemacher Alexander Kluge in Erinnerung: „In Gefahr und höchster Not, bringt der Mittelweg den Tod“. 

 

Corporate Germany in der Verantwortung

 

Wir erleben gerade, wie wenig eine proklamierte Staatsräson wert ist, die nicht konsequent auf allen Ebenen der Gesellschaft verankert wird. Aber kann das nur die Aufgabe von Politik, Bildung und den Institutionen der Zivilgesellschaft sein? Nach dem Ukrainekrieg wird jetzt noch einmal deutlicher: Auch Corporate Germany steht hier in der Verantwortung.

 

Freiheit für Wirtschaft und Gesellschaft

 

Mehr Freiheit für wirtschaftliches und unternehmerisches Handeln. Die wirtschaftsliberale Inanspruchnahme von Freiheit verliert in dem Moment an Legitimität, wenn die Attacken totalitärer und extremistischer Gefährder - als Staaten, Organisationen und Individuen - auf eben diese Freiheit im und gegenüber dem eigenen Land unwidersprochen bleiben. 

 

Deswegen muss sich, ganz im Sinne von Professor Argenti, ein Unternehmen auch nicht zu allem und jedem äußern. Zu den wirklich wichtigen Dingen aber schon.

 

September 2023

Streumunition im Marketing. Sklavenfreie Schokolade. Wollt ihr uns für dumm verkaufen?

„Sehr geehrter Herr Möhrle, herzlichen Glückwunsch: Sie sind für den Award Arbeitgeber der Zukunft nominiert. Deutschlands begehrteste Business Auszeichnung“
 

Wow. Vor gut zwei Jahren erst habe ich die Hartwin Möhrle UG (haftungsbeschränkt) gegründet. Und nun werde ich mit gerade mal einem Angestellten schon für den Arbeitgeber-Award der Zukunft nominiert.

 

Gut, das Unternehmen ist voll digitalisiert, die Arbeitszeiten im Home wie im Out of Home Office (Wien, Costa Brava) sind hochflexibel und konsequent an den tatsächlichen Anforderungen einer diversifizierten Kundenstruktur orientiert. Gelebtes Work Life Blending inklusive Quality Time Outs, leistungsgerechter Bezahlung und betriebseigener Duschräume (wenn´s mal später wird) sichern Mitarbeiterbindung und Rendite. 

 

 

Arbeitgeber der Zukunft - mit einem Angestellten

 

Wenn das keine Zukunft hat. Zumal in diesem Fall Inhaber, Geschäftsführer und Mitarbeiter des Unternehmens aus einer einzigen Person bestehen. Die Auszeichnung wirke „wie ein Oscar für unternehmerische Leistungen“, schreibt Jens de Buhr, Verleger des DUP Unternehmer-Magazins aus Hamburg und offensichtlich deren Initiator. Wenn mich meine Kinder hänseln wollen, titulieren sie meinen professionellen Status weitaus profaner:„Selbständiger Rentner“.

 


Ächtungsfreie Streumunition

Sie ahnen schon. Ich spreche von Marketing-Streumunition. Ächtungsfrei zwar, aber hirnlos und ohne hinreichende Verteilerprüfung in den Markt gefeuert. In der Hoffnung, dass ausreichend viele Schmeicheltreffer zum Erfolg des Geschäftsmodells Award- und Siegelverkaufe beitragen. Laut Prospekt sind namhafte Unternehmen darunter: OTTO, Telekom, Merkle, Kyocera etc. Dass die ehemalige Ministerin für Justiz und für Wirtschaft, Brigitte Zypries, dabei als Herausgeberin des DUP Unternehmer-Magazins agiert, macht die Sache nicht seriöser. 

 

 

Sklavenfreie Schokolade 

 

Glauben wir an das Gute im Marketing. Neulich brachte meine Frau einige Tafeln Schokolade vom Einkauf bei Aldi mit. Der Packungstext versprach nicht wenig: „CHOCOCHANGER“. Gleich zwei Siegel prangten vorne auf der „Belgian Milk Chocolate“ der Marke Choceur: das bekannte „FAIRTRADE“-Siegel und ein „CHOCOCHANGER“-Siegel, letzteres mit bemerkenswertem Text: „together we´ll make chocolate 100% slave free“. 

 

Moment mal! Schokolade bewerben mit dem Siegel „sklavenfrei“? Im Jahr 2023? Ja, es gibt sie noch und zwar viel zu viel, die sklavenartige Ausbeutung von Menschen unter unzumutbaren Arbeits- und Lebensbedingungen. Aber damit werben? Geht´s noch? 

 

 

Öko-Salbader und professionelle Gedankenlosigkeit


Ich hätte die Verpackung nicht öffnen sollen. Die Innenseite, eine geradezu groteske Melange aus Gutmenschen-Wording, universellem Öko-Salbader und schlichtem Texterschwachsinn. Mit meiner Wahl würde ich die Kakaobauern in Westafrika unterstützen. Deren Kakaobohnen kämen über die Open Chain von Tonys Chocolonely. Wir, - also Aldi, Choceur, wer noch? - hätten deren fünf Beschaffungsprinzipien übernommen. Die da lauten: Rückverfolgbare Kakaobohnen, höherer Preis, starke Kakaobauern, Langfristigkeit, Produktivität und Qualität.

 

 

Botschaft gut, Sprache schlecht

 

Ok. Ich gehe einfach mal davon aus, dass die tonysopenchain.com-Initative eine gute Sache ist. Offensichtlich hat jedoch niemand auch nur einen Gedanken daran verschwendet, wie die mehr oder weniger direkte Übersetzung von Tonys Website bei durchschnittlich Greenwashing-sensibilisierten Konsument:innen ankommen kann.

 

Was bitte ist eine „Rückverfolgbare Kakaobohne“? Gemeint ist wohl der gesamte Prozess von der Saat, Pflege, Ernte, Veredelung bis zur Vermarktung. „Wir“ würden zudem einen „zusätzlichen Aufpreis“ bezahlen, damit die Bäuerinnen und Bauern ihren Lebensunterhalt bestreiten könnten. Was im Umkehrschluss heißt, beim handelsüblichen Preis für Kakaobohnen ist dies nicht der Fall. Und schon wandert mein Blick gedanklich das ganze Schokoladenregal bei Aldi entlang. 

 

Alles diene der Beendigung von Armut, Kinderarbeit und Entwaldung. Zudem ermögliche es den Bäuerinnen und Bauern, „strukturell gegen Ungleichheiten vorzugehen“. Strammes Programm. Weiß die UNO schon davon?

 

 

Rückverfolgbarer Text-Müll

 

Gute Botschaften brauchen eine gute, präzise und vor allem glaubwürdige Sprache. Auf den chocochanger.aldi.com Seiten von Aldi klingt das alles ganz respektabel. In der Verpackung jedoch steht, als Endprodukt rückverfolgbarer Gedankenlosigkeit, echter Text-Müll. Der beabsichtigte „CHOCOCHANGER“-Effekt verkehrt sich ins Gegenteil. Wollt ihr uns für dumm verkaufen?

 

 

Dumme Konsument:innen

 

Hier liegt das Problem. Die gemeinen Konsument:innen gelten in weiten Teilen der Marketing-Millieus immer noch als strukturell dumme Subjekte, denen man fast jeden Scheiß verkaufen kann. Der intelligente Konsument? Ein Marketing-Mythos.

 

Was können „wir" tun? Die kritischen, für gute Projekte und Produkte gleichermaßen aufgeschlossenen und ausgesprochen kaufbereiten Konsument:innen? Wir sollten derlei Attacken auf unsere intellektuelle Unversehrtheit entlarven, wo auch immer Sie uns treffen. Selbst wenn es nur dem eigenen Seelenfrieden und der Unterhaltung im Freund:innenkreis dient. 

  

By the way: Die „CHOCOCHANGER Salted Caramel“-Schokolade schmeckt verdammt gut. Vermutlich liegt es an den 58 Gramm Zucker pro 100 Gramm Gesamtgewicht. Ich tue es für die Kakaobauern. 

 

Juni 2023

Whistelblowing zwischen echtem Schutz, Denunziation und absurder Überregelung.

Es ist da, das neue Hinweisgeberschutzgesetz. Ab dem 2. Juli 2023 sind so genannte Hinweisgebersysteme für Unternehmen mit mehr als 250 Mitarbeitenden Pflicht, ab 1. Dezember 2023 schon ab 50 Beschäftigten.    

Denunziatorische Atmosphäre

 

Endlich, sagen viele. Für sie ist das staatlich verordnete „Whistleblowing“ eine wichtige Säule der Compliance. Keine Hinweisgeber:in soll in Zukunft fürchten müssen, für seriöse Hinweise als Denunziant:in beschimpft, abgestraft oder zum Auswandern gezwungen zu werden. Da Moskau derzeit ausfällt, blieben vielleicht Oberbayern oder eine Nordsee-Hallig.

 

Der Chef-Personaler eines international operierenden Handelskonzerns warnte vor dem Entstehen einer „denunziatorische Atmosphäre“. Und steht damit wohl stellvertretend für die Kritiker dieser Spielart der Corporate Governance.

 

Groteske Fehlentwicklungen

 

Kontroverse Positionen zum organisierten „Whisteblowing“ gibt es seit Existenz des Begriffs. Spätestens der Siemens-Skandal hat die bisweilen hektische Implementierung entsprechender Meldesysteme forciert - mit zum Teil schrägen Folgen. Ein Tech-Konzern aus Süd-Korea bot seinen Beschäftigten an, Regelverstöße auf direktem Wege in die Zentrale nach Seoul zu melden. Der Kanal wurde alsbald wegen Verödung geschlossen.

 

Allzu offen und niederschwellig ausgerollte Meldesysteme wiederum gerieten zur betrieblichen Klagemauer. Compliance-Abteilungen wurden überschüttet mit „Hinweisen“ auf Kolleg:innen, die penetrant ihre Pausen überzogen, firmeneigenes Toilettenpapier privatisierten oder Vorgesetzte, die verbotenerweise in ihrem Dienstwagen rauchten.   

 


Regelsysteme: Bis ins Absurde reichende Komplexität

 

Für eine zielführende Positionierung des „Whistleblowing“ in den Organisationen ist der gesetzliche Rahmen sicher sinnvoll. Er bringt aber auch eines mit sich: noch mehr Regeln. Womit wir bei einem manifesten Strukturproblem der Legal Compliance sind. 

 

Lange schon ächzen viele Compliance-Systeme unter weitreichender Überregelung. Absurd überbordende und hochkomplexe Vorschriftenkonvolute verfestigen das Negativ-Image der Compliance als „Leistungs- und Geschäftsverhinderungsinstrument“ und stehen damit ihrer Wirksamkeit selbst im Wege. 

 


Compliance: Immer noch kein „Business Enabler“

 

Allen jahrelangen kommunikativen Anstrengungen zum Trotz: Corporate Compliance steht immer noch viel zu wenig für „Business Enabling“. Sprich, für ein Instrument, mit dem Geschäfte und Dienstleistungen gerade deswegen möglich werden, weil risikominimierende Schutzmechanismen den verantwortlichen Akteuren Handlungssicherheit geben.  

 

Das verwundert nicht. Solange Manager:innen beispielsweise vorgeschrieben wird, dass sie ihren Geschäftspartnern zwar ein Mineralwasser, nicht aber einen Kaffee ausgeben dürfen, wird nicht Sicherheit, sondern institutionalisiertes Misstrauen zur Dauerbotschaft: „Wir trauen dir nicht zu, selber zu entscheiden, was richtig ist und was nicht.“ Also werden für die überwiegend rechtschaffen und gesetzestreu arbeitenden Belegschaften alle nur erdenklichen Risikosituationen niedergeregelt 

 

 

Informelle Sozialkontrolle 

 

Im regulatorischen Dschungel verliert sich bisweilen der Blick auf das Wesentliche. Dazu gehört die regelkomplementäre und unabdingbare Verankerung von Wirkmechanismen intrinsischer Risikominimierung. Prof. Kai Bussman von der Universität Halle nennt das „informelle Sozialkontrolle“. Wenn also die Kollegin zum Kollegen sagt: „Hör mal, das ist nicht in Ordnung, was du da gerade machst. Lass das bitte mal abchecken.“ Hier fängt die in der Compliance so oft propagierte „Speak Up Culture“ an. Und damit viel anspruchsvollere Vermittlungsarbeit, als tausend E-Learning-Seminar jemals leisten können.

 


Mut, Eigenverantwortung und Risikobereitschaft werden karikiert 

 

In der verregelten Organisation verstecken sich die sowieso schon wenig risikofreudigen Menschen erst recht hinter den Regeln, machen ihren Job nur nach Vorschrift. Oder wie es die Leiterin einer Behörde formulierte: „Wir arbeiten nur noch mit Helm und dicken Handschuhen.“ Tja, dann dauert die Bedienung des Faxgeräts halt auch etwas länger.

 


Komplexe Regelsysteme ausmisten

 

Vor allem konterkariert diese Entwicklung, was seit Jahren in aufwendigen Trainingsprogrammen versucht wird, landauf landab bei Führungskräften zu verankern: eigenverantwortliches, agiles Handeln, Mut zum kalkulierten Risiko, zu innovativen Ideen und dem viel bemühten „Thinking out of the box“. Alles Dinge, die unternehmerisches und institutionelles Handeln zwingend benötigt, um erfolgreich zu sein - auch und gerade beim Integrity Management und einer werteorientierten wie gewinnbringenden Unternehmensführung. Das mutige Ausmisten real existierender Compliance- und Integrity Management-Systeme ist überfällig. „Reduce to the max“.

 


Wertemanagement und Wertschöpfung zusammenbringen

 

Das ist die eine Sache. Mehr denn je wird es in Zukunft darum gehen, bislang zu weit nebeneinander herlaufende Handlungsstränge miteinander zu verknüpfen: Wertemanagement und Wertschöpfung, Regelkultur und Geschäftsmodell. 

 

Werte wie Integrität, Verantwortung und Nachhaltigkeit gehören als harte Währung zur erfolgreichen Unternehmensführung. Damit müssen sich Gewinne erwirtschaften lassen. Sie taugen zum Leitbild nicht nur für integre, sondern auch für erfolgreiche Manager:innen. 

 

 

Konkrete, auch monetäre Anreize schaffen

 

Zwingender aus meiner Sicht: die Ergänzung der Anreiz- und Belohnungssysteme. Gutes Geld gibt es nur für gute Geschäfte. Heißt, für erfolgreiches, weil integres und nachhaltiges Wirtschaften. Dafür muss Integrität aus der Wertebibliothek herausgeholt und zur direkten, programmatischen Führungsaufgabe, zum Managementleitbild entwickelt und verankert werden. Wobei, wie kann es anders sein, die Kommunikation eine erfolgskritische Rolle spielt. 

    

 

Mai 2023

Weniger arbeiten, gleiches Geld, mehr Leben?

Vier-Tage-Woche, Fachkräftemangel, Work Life Balance, Generation Z. Der Spiegel titelt, die Stimmung schwankt. Hoffnung hier, Entsetzen da. New Work gegen altes Denken. Deutschland arbeitet nicht flexibel genug. Was tun? 

  

Die Berliner Kampagnen-Agentur Ballhaus West hat die Vier-Tage-Woche bei vollem Lohnausgleich eingeführt. Vier Tagen Arbeit in der Woche pro Mensch, damit können offensichtlich auch anspruchsvolle Kunden gut bedient werden. Flexibilität und kluges Ressourcenmanagement von Management und Mitarbeitenden vorausgesetzt. Guter Move im harten Wettbewerb um gute Leute.

 

Die Kommunikationsbranche sieht sich gerne vorn, wenn es um neue Trends und innovative Entwicklungen geht. Auch beim Thema Arbeit? Nun ja, jedenfalls bietet sie ihren Leuten eine ganze Menge: Selbst- und Fremdausbeutung auf hohem Niveau, zunehmend erodierende Workaholic-Romantik, weitgehende Verhomeofficeung, aber auch viel formelle wie informelle Flexibilität und Selbständigkeit in der Arbeitsgestaltung. 

 

Zeitenwende in der Arbeitswelt.

 

Die Spiegel-Titelstory dieser Woche über die Generation Z und deren Einstellung zu Arbeit und Leben spiegelt eine bereits lang andauernde Entwicklung: Die Jungen wollen nicht bloß weniger, sie wollen vor allem anders arbeiten. Sie sind auch nicht weniger ehrgeizig. Doch dicke Dienstwagen oder Vier-Tage-Incentive-Trips auf die Malediven kompensieren schon lange keine 60 Stunden-Wochen mehr.

   

Work-Life-Balance ist fürchterlich.

 

Nicola Leibinger-Kammüller, findet den Begriff Work Life Balance „fürchterlich“. (Interview in der F.A.Z. vom 12.05.2023). Er trenne Arbeit und Leben, anstatt beides miteinander sinnvoll zu verbinden. Die erfolgreiche Chefin des Vorzeige-Familienunternehmens und marktführenden Metallverarbeiters Trumpf aus Süddeutschland personifiziert den schwäbisch-protestantischen Arbeitsethos in seiner modernen Form. 

 

Ihr Credo: Innovative, produktive und flexible Arbeit, die die Menschen glücklich und Deutschland international wettbewerbsfähig macht. Eine vielbejubelte Einstellung, die mehr und mehr unter Druck gerät. Nicht nur, weil smarte New Work-Vordenker:innen die Work-Life-Balance  durch das smartere Work-Life-Blending als Leitbegriff der neuen Arbeitswelt ersetzt haben. Sondern weil in vielen Teilen der Wirtschaft eine Arbeitsorganisation aus der Vergangenheit mit der Gegenwart nicht mehr Schritt hält. Von der Zukunft garnicht zu reden.

  

Workaholic mutiert zum Schimpfwort.

 

Die Jung-Unternehmerin, Ärztin und dreifache Mutter Michaela Hagemann aus Mainz ist überzeugt davon, dass wir als Gesellschaft grundlegend anders an das Thema Arbeit herangehen müssen. „Workaholic ist mittlerweile ja schon ein Schimpfwort.“ 

 

Ihr Unternehmen BOEP, das sie gemeinsam mit ihrem Bruder leitet, entwickelt und vertreibt mit 15 Mitarbeitenden ziemlich erfolgreich vegane Naturkosmetik. Flexible Arbeitsorganisation, die professionelle Anforderungen mit dem persönlichen „Well beeing“verbindet, stünden bei Bewerbungsgesprächen ganz oben. „Die Themen haben einen höheren Stellenwert als die Frage nach dem Gehalt.“ Auch für Motivation und Identifikation.

 

Einfach viel arbeiten hilft nicht mehr viel. 

 

Die aktuelle Debatte um die Vier-Tage-Woche drückt den Grad der Versteifung aus, unter der das Arbeitsmodell Deutschland leidet. Die mehr oder minder starre Festschreibung von Arbeitszeit ist Teil des Problems. Viel arbeiten hilft nicht mehr automatisch viel. Pauschal weniger arbeiten auch nicht. Zur produktiven Nutzung unserer Ressourcen und Kompetenzen braucht es intelligentere Modelle, die zu den Marktanforderungen und den individuellen Bedürfnissen passen.

 

Ein Pfälzer Bäcker als Revolutionär der Arbeit.

 

Ein Bäcker aus der Pfalz hat mit einem variablen Arbeitszeitmodell seine Backstube wieder zum attraktiven Arbeitsplatz gemacht. Bei Trumpf, dem Unternehmen von Nicola Leibinger-Kammüller, können sich Mitarbeitende einmal im Jahr ihr Arbeitszeitmodell wählen, zwischen minimum 15 und maximal 40 Stunden pro Woche und bleiben dem Unternehmen lange Zeit treu. Die Hotelgruppe 25Hours testet die Vier-Tage Woche. Für den freien Tag mehr hängen die Angestellten eine Stunde pro Arbeitstage dran. Das ist gelebte New Work, gänzlich unideologisch und im Rahmen geltender Arbeitsschutzregeln. 

 

Mehr solcher Beispiele zeigt der Film „New Work“ in der 3Sat-Sendereihe MAKRO. Noch bis Anfang September in der Mediathek zu sehen. Sehr empfehlenswert. 

 

Mehr Flexibilität im gesamten Arbeitsleben.

 

Die eigentliche Revolution sieht Zukunftsforscher Daniel Dettling in der lebensphasenbezogenen Organisation von Arbeit. Warum nicht auch schon als junger Mensch Arbeitszeit reduzieren oder Auszeiten einlegen? Wenn zum Beispiel die Familie besonders viel Zeit erfordert. Und warum dann nicht als älterer Mensch weiter die Arbeit tun, die man gerne macht und machen kann. Bedarf an erfahrenen Fachkräften wird es noch lange geben. 

 

Ein neues Erfolgsmodell für Arbeit.

 

Unsere Gesellschaft braucht ein neues Erfolgsmodell der Arbeit. Es wird flexibler, variabler sein müssen, für Arbeitgeber:innen wie für Arbeitnehmerinnen. Es muss kreative Varianten ermöglichen, die unterschiedlichen Bedarfen und Anforderungen gerecht werden. Inklusive rechtlicher Rahmensetzungen, die diejenigen schützt, die Schutz benötigen. Aber die Menschen nicht daran hindert, Lösungen für die Arbeit und den Wohlstand der Zukunft zu schaffen. 

 

 Leitbranche Kommunikation? Auf ihr Verbände!

 

Wäre die Kommunikationsbranche nicht eigentlich der ideale Wirtschaftsbereich, in dem innovative Formen von Arbeit und Arbeitsorganisation ausprobiert und gleich auch auf ihre Tauglichkeit getestet werden könnten? Ob es die Vier-Tage-Woche sein muss, ist dabei nicht ausgemacht. Auch das 100-80-100-Modell dürfte Chancen haben: 100% Lohn für 80 % Arbeitszeit und 100 % Leistung. Es ginge sicher noch viel mehr. 

 

Wäre das nicht mal ein Projekt für die Verbände der Kommunikationswirtschaft? Mit mutigen Unternehmen und Agenturen innovative Impulse setzen und sich als innovative Branche profilieren? Den Geschäften täte das mittel- und langfristig sicher gut. Die Attraktivität für junge, ehrgeizige und motivierte Talente wäre vermutlich der größte Gewinn dabei.

 

 

 

Links zum Thema

 

Der Spiegel, Ausgabe vom 28.05.23

https://www.spiegel.de/start/work-life-balance-warum-die-generation-z-anders-arbeiten-will-und-damit-jetzt-alle-ansteckt-a-2b4d84c1-f53f-4fca-ab51-6f4c1c8bbd39?context=issue 

 

„Work-Life-Balance finde ich fürchterlich“, F.A.Z. 12.05.2023. Interview mit Nicola Leibinger-Kammüller, Chefin des Familienunternehmens Trumpf

https://zeitung.faz.net/faz/unternehmen/2023-05-12/work-life-balance-finde-ich-fuerchterlich/892745.html

 

„Vier Tage-Woche, New Work und altes Denken“

YouTube-Kanal: HomeOffice für Politik & Kommunikation - zwei Generationen, zwei Perspektiven. Gast: Dr. Michaela Hagemann.

https://www.youtube.com/@homeofficefurpolitikundkom4109

 

New Work(Load)? Studie der Hans Boeckler-Stiftung
https://www.boeckler.de/de/faust-detail.htm?sync_id=HBS-008600

 

Zukunftsinstitut: Megatrend New Work

https://www.zukunftsinstitut.de/dossier/megatrend-new-work/
  

 

 

April 2023

Revolution, Freiheit, Feuer, KI. Alles unter Kontrolle.

Künstliche Intelligenz stellt vieles auf den Kopf. Den Kopf verlieren müssen wir deswegen noch lange nicht. Dabei hilft vor allem ein Text aus der F.A.Z. vom 24.04.2023 und der Deutsche PR-Tag in Hannover.

Für Iris Heilmann, Deutschland-Geschäftsführerin der PR-Agentur Palmer Hargreaves, ist KI eine Querschnittstechnologie „…vergleichbar mit der Dampfmaschine, mit Elektrizität und dem Internet.“ (PR-REPORT 02/23). Fürwahr ein mächtiger Satz. Was in weiten Teilen der Wirtschaft Euphorie auslöst, sorgt in Politik, Wissenschaft und Datenschutz für regelrechte Panikattacken - und den Ruf nach Regulierung und Kontrolle. 

 

Verwirrung auf hohem Niveau

 

Während Tech-Firmen, Beratungen, Agenturen und Unternehmen die aktuellen Angebote trotz offensichtlicher Fehlerhaftigkeit hektisch in ihr Dienstleistungsportfolio integrieren, rollt unter mächtigem Schnauben die Regulierungsdebatte an. Italiens Datenschutzbehörde hat ChatGPT kurzerhand einstweilig verboten. Elon Musk, Apple-Gründer Steven Wozniak und zahlreiche kritische Geister aus Forschung und Wissenschaft irrlichtern zwischen Moratorien und Firmengründungen. Und die chinesischen Führung fordert ihre Tech-Betriebe zum Aufbau wettbewerbsfähiger, aber bitteschön diktaturkonformer KI-Produkte auf. 

 

Globale, technologische Zeitenwende 

All diese Zeichen sprechen für eine technologische Zeitenwende. Innerhalb kürzester Zeit wird diese Technik - es ist und bleibt eine Technik - im globalen Maßstab in Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft für die meisten Menschen unkompliziert nutzbar. Zwar ist sie noch ziemlich fehlerhaft und ausgesprochen missbrauchsträchtig, wartet aber mit erstaunlich tauglichen, die menschlichen Fähigkeiten in bestimmten Bereichen weit übersteigenden Ergebnissen auf. 

 

Das Feuer neu entdecken

 

„Wenn man so will, entdeckt die Informationsgesellschaft das Feuer neu“. Auch diese Aussage kommt nicht gerade schmächtig daher. Sie stammt aus einem Text von Datenschützerin Marit Hansen und den Professoren Tobias Keber, Stephan Rixen und Rolf Schwartmann, veröffentlicht in der F.A.Z. vom 24.04.2023. Ich rate dringend dazu, diesen Text aufmerksam zu lesen und in seiner Bedeutung zu durchdringen. Er gehört zum intelligentesten, was die öffentliche Meinungsbildung zum Thema KI derzeit begleitet.  

 

Verbote bringen nichts

 

Autorin und Autoren des Textes sind sich einig: KI verbieten zu wollen ist kontraproduktiv. 

Deren wohltuend unaufgeregter und differenzierter Blick gilt den revolutionären Möglichkeiten und Chancen der KI genauso wie den offensichtlichen Risiken und der damit verknüpften Schutzbedürftigkeit der Nutzer:innen, die weit mehr als deren personenbezogenen Daten betrifft. Jede neue Technik sei auf Akzeptanz angewiesen, wenn sie „dauerhaft zu Wohlfahrtsgewinnen führen soll“.

 

Sie sprechen von einem „Regulierungsansatz mittlerer Reichweite“. Von der „Kreation einer KI-Superkontrollbehörde auf EU-Ebene“ halten sie nichts. Dagegen werfen sie kluge Ideen in die Debatte, zum Beispiel dezentrale Ansätze innerhalb der EU, intelligente Konzepte der Anonymisierung und Pseudonymisierung. Und Regulierungen, die nicht nur rechtliche, sondern auch lebensbereichsspezifische Anforderungen einbeziehen. Doch wie soll das gehen? Sie setzen zumindest wichtige Prämissen.

 

Die Technik bleibt in der Verantwortung derer, die sie einsetzen

 

„Dass ein tiefes neuronales Netz auch für seinen Anbieter nicht steuerbar sein mag, befreit diesen nicht von seiner Verantwortung. Im Gegenteil: Verantwortung heißt immer auch Verantwortung für die als möglich erkannten und in Kauf genommenen Folgen eigener Innovationskraft.“

 

Noch so ein Satz von betörender Schlichtheit. Heißt: Wer verantwortlich ist, haftet. So einfach könnte das sein. Also formulieren wir doch zunächst die zentralen Haftungsrisiken für die Anbieter:innen und warten nicht bis auf zum Scheitern verurteilte Versuche einer bis ins Detail zielenden, pseudofinalen Regulierung. Wer auf Marktmechanismen vertraut, sollte solchen Lösungen offenstehen. Nur bitte schnell, damit alle wissen woran sie sind.

Von Raubrittern und Datenregulierer:innen

 

Ganz nebenbei liefern die Autorin und ihre Autorenkollegen mit ihren Anregungen einen beispielhaften Impuls zum Umgang mit dem Spannungsverhältnis zwischen gesellschaftlicher Regulierung und unternehmerischer, wissenschaftlicher und kultureller, ja individueller Freiheit insgesamt. 

 

Möglicherweise zwingt uns die Auseinandersetzung mit der künstlichen Intelligenz und ihren Chancen und Risiken zu einer gänzlich neuen Magna Charta Digitalis. Für eine bessere, produktivere und gerechtere Beziehung zwischen Schutz und Chance, zwischen Individuum und Kollektiv. Der bisherige Wettlauf zwischen digitalen Raubrittern und gutmeinenden Datenregulierer:innen trägt zunehmend anachronistische, wenn nicht schon dysfunktionale Züge. Er wird den Anforderungen an die digitale Zeit immer weniger gerecht.  

 

Es braucht Freiheit, Revolutionäres zu gestalten

 

Eine Qualität dieses Textes steckt in der Verbindung zwischen konsequenter Chancenorientierung und der konzentrierten, gleichwohl offenen Beschäftigung mit den Regeln, die der Einsatz der neuen Technik braucht. 

 

Das Zitat zum Schluss spricht für sich: „Es ist die Pointe des Paradigmenwechsels, dass die Erweiterung menschlicher Handlungsmöglichkeiten durch KI an der menschlichen Autorschaft und damit an der Freiheit, das Revolutionäre zu gestalten, nichts ändert. Autorschaft impliziert damit auch Verantwortung. Sie zu übernehmen und nicht zu scheuen ist nötig, soll das Feuer der KI nicht wüten, sondern wärmen.“

 

Chapeau! Bitte lesen.

 

„ChatGPT zu verbieten bringt nichts“. Von Rolf Schwartmann, Marit Hansen, Tobias Keber, Stephan Rixen. Rubrik Unternehmen, F.A.Z. 24.04.2023
  

Deutscher PR-Tag 2023, 27. - 28. 04. in Hannover. Mit Veranstaltungen zum Thema KI, CommTech und digitale Kommunikation.


März 2023

Cool bleiben ist eine gesellschaftliche Aufgabe

Über Wutbürgerei als Wohlstandsphänomen, die radikale Kraft der praktischen Vernunft und Gelassenheit als Staatsräson.  

 

Neulich habe ich von einem Verlag eine Honorarabrechnung über einen geringen zweistelligen Betrag erhalten. Sie umfasste insgesamt sieben Seiten, allein drei davon dienten der Erläuterung der Honoraranteile am E-Book-Verkauf. Auf Seite sechs, der eigentlichen Abrechnung, stand am Ende: „Der Betrag ist unter dem Zahllimit“. Und in Versalien: „ENDE DER ZUSAMMENFASSUNG“. Unzweifelhaft das Ergebnis menschlicher Intelligenz. Hoffentlich sorgen solide programmierte KI-Systeme bald für eine menschengerechtere Abrechnungskommunikation.

 

Bin ich jetzt noch normaler „Rommauler “ (schwäbisch) oder schon Wutautor? Die Grenzen werden fließend.

 

Manuals, die keine/r liest

 

Der Arbeitsschutz-Beauftragte eines internationalen Großkonzerns will ein 60-seitiges Manual für die Anwendung einer Software zur Kontrolle der korrekten Einhaltung sämtlicher Arbeitsschutzvorschriften in dem Unternehmen an die Führungskräfte verschicken. Die Chefjuristin des Unternehmens stoppt das Projekt: „Ich werde dieses Manual nicht lesen und auch allen anderen Führungskräften empfehlen, es nicht zu tun“. Ist diese nun noch situatives Wut-Management oder, sehr frei nach Kant, schon die subversive Kraft der praktischen Vernunft? Eher Letzteres. Gerne mehr davon.

 

Scharmützeln als Breitensport

 

Laut Wikipedia wurde der Begriff des Wutbürgers durch den Essay des Journalisten Dirk Kurbjuweit im SPIEGEL vom 11. Oktober 2012 geprägt. Was damals auf die Debatte um Thilo Sarrazins umstrittene Thesen und die Protestierenden gegen das Bahnhofs-Projekt Stuttgart 21 bezogen war, ist mittlerweile zum gesellschaftlichen Phänomen geworden. Wo auch immer Eingriffe in die Unversehrtheit der eigenen Lebenswelt drohen, wird als ziviler Ungehorsam getarnte Renitenz zur gelebten, rundum sozialversicherten Teilzeit-Anarchie.

 

Zwar sei der Trend zur Radikalisierung der Corona-Jahre gestoppt, so das Ergebnis einer im Februar 2023 veröffentlichten Analyse des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung. Aber gilt das auch für das gefühlt zum Breitensport gewordene Scharmützeln gegen fast alles und jede/n, vor allem, aber gegen „die da oben“? 

„Denen geht´s zu gut“

 

In einer Kleinstadt im Süden Deutschlands wollten aufgebrachte Eltern den Erzieher:innen der städtischen Kitas unter wüsten Beschimpfungen die Erstellung der Dienstpläne aus den Händen nehmen und selbst Hand anlegen. Hintergrund: durch Personalmangel und Personalausfälle zum Alltag gewordenes Krisenmanagement bei den Betreuungszeiten.  

 

Eine kleine, radikale Minderheit der Eltern forderte noch dazu über den Rechtsweg den Träger der Kita auf, die Betreuung Ihrer Kinder ausschließlich durch ausgebildetes Fachpersonal sicherzustellen. Die nachmittägliche Betreuung durch erfahrene Helfer:innen der langjährig etablierten Elterninitiative lehnten sie ab. Es ging dabei um ganze zwei Stunden. Ist das noch elterliche Fürsorge oder schlicht wohlstandsbürgerliche Egozentrik? „Denen geht´s zu gut“ echauffierte sich eine Mutter, die zur Mehrheit der Eltern gehörte, die sich kooperativ mit den Verantwortlichen vor Ort um Lösungen für die Kinderbetreuung bemühten. 

 

Kreativer Widerstand

 

Richtig kreativ mutete dagegen die Protestaktion von Eltern gegen verkürzte Kita-Öffnungszeiten in einem anderen Bundesland an. Die haben ihre Kinder zur neu angesetzten Schließungszeit einfach nicht abgeholt. Das kennt man bisher nur von den IKEA-Kinderparadiesen. Müssen wir jetzt auch dort mit unabsehbaren Eskalationen und entsprechender Gegenwehr rechnen? “Wenn die Eltern von Cheyenne und Bernd-Ole ihre Kinder in den nächsten fünf Minuten nicht abholen, lassen wir sie laufen“. 

 

In welcher Welt leben wir denn?

 

Wenn unter Ausblendung der Kontexte nicht mehr unterschieden wird zwischen legitimer, vielfach notwendiger Kritik – inklusive kreativer Gegenwehr – und der maßlosen Durchsetzung eigener Interessen, dann schadet das der Gesellschaft. Dagegen sollte, dagegen muss sie sich wehren. 

 

In den letzten Jahrzehnten ist in Deutschland viel über den Sinn und Zweck einer demokratiefördernden Streitkultur gesprochen und geschrieben worden. Die Hoffnung, die bürgerlichen Subjekte könnten zu streitbaren und gleichzeitig vernunftgeleiteten Akteur:innen in überhitzten großen und kleinen gesellschaftlichen Klimazonen werden, hat sich dabei als intellektuelle Utopie herausgestellt. 

 

Lauter mentale Ich-AGs

 

Partialinteressen versus Gemeinsinn. Klingt abgedroschen, ist es aber nicht. Der Anspruch auf die Unversehrtheit des individuellen Lebensentwurfs scheint mit zunehmendem Wohlstand zum Maß aller Dinge zu werden. Ob gegen nachbarliche Fotovoltaikanlagen, Quartiersspielplätze, öffentliche Fahrradständer, Windräder und Stromtrassen sowieso, die Verlängerung von Straßenbahnlinien oder Geräuschemissionen durch kommunale Sommerfeste. Es wird gestritten, geklagt, gesägt, blockiert und protestiert, was das Zeug hält. 

 

Geradezu verwunderlich, dass in Deutschland noch kein Verein für Protestkultur existiert, mit angeschlossenem Portal zur Konfliktvermittlung. Ein Tinder für öffentlichen Aufruhr, das passende Konfliktlagen an attackewillige Freizeittupamaros vermittelt. Wutschnauben statt Parshippen. 

 

Gelassenheit als Staatsräson – und praktische Vernunft

Ich plädiere für ein Sondervermögen nächsten Bundeshaushalt zur Förderung gesellschaftlicher Gelassenheit. Die Mittel sollten dafür eingesetzt werden, praktische Vernunft als kollektive wie individuelle Interventionsdisziplin für jene Situationen zu entwickeln, in denen offensichtlicher Unsinn und egomane Maßlosigkeit den gesellschaftlichen Frieden bedrohen. 

 

Meine Frau, die Juristin, versucht mich zu beruhigen: „Reg dich ab. Ist doch alles halb so wild“. Mal sehen, ob sie auch dann noch so gelassen bleibt, wenn sich unsere Nachbarn in der gemeinsam genutzten Zufahrt festkleben. Sie bestehen nämlich darauf, dass dieser Bereich autofrei bleibt. 


Januar 2023

ChatGPT ist nicht intelligent. Und Mordor                       liegt vor Lützerath.

   

Schwer auszumachen, wo die Panik am größten ist: Bei den Journalist:innen, deren Texte alsbald gegen KI-erzeugte Varianten antreten müssen. In Schulen und Universitäten, wo KI-gestützte Besinnungsaufsätze und Doktorarbeiten dem Lehr- und Prüfpersonal die Benotungen noch schwerer machen werden als bisher. Oder in der Kommunikationsbranche, in der Texter:innen und Contentproduzent:innen um ihre Existenzberechtigung fürchten. 

 

Demokratisierung von Technologie

 

Ok, beginnen wir das Jahr nicht gleich defätistisch und nehmen uns den Rat von Siemens-Chef Roland Busch zu Herzen, „…erstmal loszulaufen, anstatt sich in den Keller zu reden und sich dann wieder herauszuarbeiten“. (F.A.Z. 21.02.2023). Im Jahr 2023 wird Künstliche Intelligenz in der Breite ankommen, sagt Gerhard Kürner, ehemaliger Kommunikationschef des österreichischen Stahlmultis voestalpine und seit einigen Jahren innovatives Mastermind der Agentur 506 aus Linz. Er geht noch weiter und spricht von einer „Demokratisierung von Technologie“. Weil wir mithilfe von ChatGPT und anderen KI-Systemen, also einfach mit „Text und Sprache High Tech bedienen können“. 

 

Nützlich, aber kaum intelligent

 

Kürner sieht KI als „menschenassistierende Technik“, die in vielen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bereichen helfen werde, einfache kognitive Aufgaben schneller und besser zu lösen. Und dabei am Ende weniger Arbeitsplätze koste, als vielmehr dazu beitrage, den Arbeitskräftemangel in qualifizierten Bereichen zu kompensieren. 

 

Der Aachener KI-Professor und Vorstandsvorsitzender des europäische KI-Netzwerks CAIRE bleibt da zurückhaltend. Er hält die gegenwärtigen Systeme für „begrenzt darin, Sachverhalte wirklich tiefgreifend zu verstehen“ (F.A.Z. 21.01.2023). Und auch nur im Ansatz von einer Vergleichbarkeit mit menschlicher Intelligenz zu sprechen, hält er schlicht „für völlig abwegig“.        

 

Weniger Aufregung, mehr Neugierde 
 

Anyway. Das Thema KI hat das Zeug zum branchenübergreifenden Top Thema des Jahres. Sorgen wir also für eine aufgeschlossene und neugierige Auseinandersetzung mit den Chancen und Risiken – und etwas weniger Aufgeregtheit, was sowohl Heilsverkündungen als auch Dystopieproduktion betrifft. 

 

Was das für die PR- und Kommunikationsbranche bedeuten kann, darüber werde ich beim Deutschen PR-Tag am 27. April in Hannover mit der ausgewiesenen Expertin für Künstliche Intelligenz und E-Commerce, Dr. Manuela Regneri vom House of House of Computing and Data Science der Universität Hamburg sprechen. Unser Thema: „Künstliche Intelligenz: Nutzen und Grenzen in der professionellen Kommunikation“.

 

Thunberg und Neubauer: Klima-Posing als Kampagnenroutine

 

Anderes Thema: Mit Blick auf den Braunkohletagebau Garzweiler Zwei und angesichts der unvermeidbaren Zerstörung des Meilers Lützerath hat Greta Thunberg das richtige Bild gewählt: Mordor. Sie ist ein Profi, was bildstarke Aussagen und Auftritte betrifft. Gut gelaunt ließ sie sich wenig später von zwei Polizisten im sichtbar locker angesetzten Demonstrant:innen-Entfernungsgriff einvernehmlich in die Kameras halten: Klima-Posing als Kampagnenroutine. Nicht weniger geübt der Trag mich weg-Auftritt ihrer Schwester im Geiste, Louisa Neubauer. Aus Campaigner-Sicht lautet das Urteil: Top. Aus politischer Perspektive: Nun ja, das wirkt schon ziemlich „abgelöscht“ wie eine Schweizer Kollegin bemerkte. Aber geht es hier eigentlich noch um Politik? Ähm, nicht wirklich. 

 

Moral Campaigning als Politikersatz

 

Die Klimaaktivist:innen, die sich im Hambi, im Danni, im Fechenheimer Wald und in Lützerath für die Rettung des Planeten einsetzen, argumentieren unversöhnlich, ultimativ, im finalen Retter:innen-Modus. Ohne Selbstzweifel an der Legitimität ihres Handelns schieben sie alle, die noch an den Sinn pragmatisch-politischer Entscheidungsbildung glauben über die ideologische Abbruchkante hinunter in den Schlund des Bösen. Dabei richten sich die wortführenden Aktivist:innen vor allem gegen die, die ihnen im konkreten Bemühen um den Wandel am nächsten stehen: die Grünen. 

 

Kommunikativ riskantes Spiel

 

Das ist nicht nur politisch ein gefährliches Spiel. Auch kommunikativ betrachtet gehen die deutschen Umweltaktivist:innen ein hohes Risiko ein, und zwar vor allem gegenüber der eigenen Bewegung. Die öffentlich immer wieder propagierte Kompromisslosigkeit führt absehbar zu individuellen und kollektiven Enttäuschungen. Warum? Weil die Distanz zwischen persönlich erlebbaren Fortschritten in Richtung besseres Klima und dem radikal an sich selbst und die Welt gestellten Anspruch auf den totalen Wandel jetzt und gleich mit jeder neuerlichen Inszenierung immer größer und irgendwann auch immer schmerzhafter wird. 

 

Extinction Rebellion schwenkt um

 

Damit können Kampagnenprofis wie Thunberg und Neubauer vielleicht umgehen. Für viele, die Ihnen mit ganzem Herzen folgen, gilt das nicht. Diesen Widerspruch, das hat die Geschichte der sozialen Bewegungen immer wieder gezeigt, halten die wenigsten lange aus. Ganz abgesehen von der Belastung durch die breite gesellschaftliche Ablehnung, die mit zunehmender Radikalität der Inszenierungen ebenfalls an Vehemenz zunimmt. 

 

Die in Großbritannien entstandenen Vorbilder von Extinction Rebellion haben das erkannt. Ihr neuer Kampagnenansatz geht wesentlich mehr in Richtung gesellschaftliche Akzeptanz. Fraglich, wie lange die deutschen Klima-Campaigner:innen noch an ihren moral- und konfrontationsgesteuerten Inszenierungen festkleben.   

 


November / Dezember 2022

Kein Jahr zum Vergessen

Was für ein Anfang, was für ein Ende. Zwei regionale Ereignisse mit globalen Auswirkungen setzen die Eckpfosten. Im Februar der Überfall Russlands auf die Ukraine. Wie lange wird der Kampf noch dauern? Fest steht jetzt schon: Es gibt nur Verlierer:innen. Von wenigen politischen und kommerziellen Profiteur:innen abgesehen. Anders beim ultimativen Jahresendereignis: dem Finale um die Fußball-WM in Katar. Sieger, Verlierer. Klare Verhältnisse. Trotz berechtigter wie fragwürdiger Kritik an den Veranstaltern einmal mehr Ausdruck der Idee vom sportlichen Kampf, der am Ende mehr für die gegenseitige Verständigung leistet als so manche Uno-Mission.  

 

Welcome back Propaganda 

 

Der Krieg Putins und seiner Klepto-Demokratur hat zu einer Revitalisierung der Propaganda als strategischer Waffe auf einem neuen, weil digitalen Niveau geführt. Die Instrumente zur Konstruktion alternativer Realitäten heißen Fake News, Propaganda, Zensur. Kommunikative Risikokriterien, die nun auch Einzug in die Resilienz-Strategien von Unternehmen und privaten wie öffentlichen Institutionen halten. 

 

Kommunikative Disruption 

 

Die aktuellen Krisen haben zur Disruption der politischen Kommunikation insgesamt geführt. Begonnen hat es schon in der ersten Pandemiephase, als Klartext sprechende Virolog:innen die gewohnte politische Krisen-Phraseologie als das entblößt haben, was sie ist. In diesem Jahr hat Wirtschaftsminister Robert Habeck einen neuen Kommunikationsstil eingeführt, der Standards weit über die politische Sphäre hinaus setzt. Was hat er getan? Er hat einfach aufgehört so zu tun, als gäbe es für alle Probleme und Unwägbarkeiten schon Lösungen. Stattdessen hat er schlicht darüber gesprochen hat, wie an den Lösungen gearbeitet wird. 

 

Er hat den Leuten die Wahrheit zugemutet. Und ihnen gleichzeitig vermittelt, dass wir weder hilf- noch machtlos sind, auch außergewöhnliche Situationen zu bewältigen. Eine alte Regel aus der Krisenkommunikation sagt: Wenn du zum Grund der Krise selbst nichts Gutes sagen kannst oder willst, dann sprich umso mehr davon, wie du gut du sie managst.

  

Destruktiver Journalismus

 

Bis tief in die konservative Medienwelt hinein reichten die Elogen auf den Habeck´schen Kommunikationsstil. Nur wenige Wochen später machen die gleichen Medien aus Robert, dem Helden, Habeck, den Versager. Man hätte die Texte und Kommentare schon vorab formulieren können. So erwartbar war das, was in großer Übereinstimmung geschrieben und kommentiert wurde, als die Gaslieferungen doch noch auf sich warten ließen, die Krise Fehler im Politikmanagement provozierte und die weit streuenden Geschütze der Zuwendungsartillerie nicht vor alle vor Härten verschonte. 

 

Anstatt klar und deutlich zu benennen, wo echte Härten entstehen und wo es sich schlicht um Wohlstandsreflexe einer in weiten Teilen saturierten Gesellschaft handelt, gefiel sich – ich bin jetzt verallgemeinernd ungerecht – die Mehrzahl der Kommentator:innen in einer dem deutschen Journalismus fest verbundenen Grundhaltung, die kritische Distanz und investigative Professionalität mit destruktiver Routine verwechselt.

 

Lichtblicke, auch das

 

Am Anfang war der Gau: Ein Fehler in der Übermittlung der verfügbaren Medizinstudienplätze an der Goethe-Universität in Frankfurt führte zu über 250 Zusagen für Studienplätze, die es gar nicht gab. Die Zusagen mussten wieder zurückgenommen werden. Die Folge: Entsetzte junge Menschen, mit zum Teil bereits gekündigten Wohn- und Arbeitsverhältnissen. Wildgewordene Eltern, krawallige Anwält:innen und natürlich die Medien. Die Verantwortlichen blieben ruhig, bekannten sich zu ihrer Verantwortung, gingen ins Gespräch mit den Betroffenen und schafften es, in Kooperation mit dem Land und anderen Universitäten, nahezu allen Bewerber:innen einen Medizinstudienplatz zu beschaffen. Die Kommunikation fügte unaufgeregt zusammen, was vermittelt werden musste: Das ehrliche Bemühen der Handelnden um echte Lösungen. Als sich diese manifestierten, wirkte die Entschuldigung des Universitätspräsidenten für den Vorfall umso glaubwürdiger. Chapeau!

 

Doppelte Niederlage 

 

Der Flop des Jahres: Die One-Love-Aktion des DFB und seiner ministerialen Entourage. Für die Nachbereitung der politischen Blamage empfehle ich wärmstens das Interview mit Sylvia Schenk, Richterin, ehemalige Leichtathletin, Frankfurter Sportdezernentin und Transparency-Vorständin zum Thema Katar vom 19.12.22 in der F.A.Z. 

 

Zum kommunikativen Desaster wiederum führte eine fatale Allianz aus holpriger Gutmenschelei, amateurhafter kommunikativer Konfliktführung und fehlendem Siegeswillen. Warum so hart? Weil von vorne herein klar war, mit welchem Gegner man es zu tun hatte: Bekanntermaßen eine Truppe zynischer, mit allen der Selbsterhaltung dienenden Wassern gewaschenen Fifa-Funktionar:innen. Für die zählte nur der Sieg. Für die Love Parade des DFB reichte die Geste. Damit gewinnst du weder ein Fußballspiel noch eine PR-Schlacht. Selbst ethisch korrekte Unentschieden taugen wenig in solch einer Situation. 

 

In diesem Sinne. Nehmen wir uns also ein Jahr vor, das zeigt, wie Krisen beendet und Katastrophen bewältigt werden. Wie freiheitliche, demokratische und tolerante Kräfte daraus produktive Energie entwickeln und dem Klimawandel – gleich in mehrfacher Hinsicht – die richtige Richtung geben. Wie üblich spielt gute Kommunikation hierbei eine zentrale Rolle.

Interessante Links

 

"WM der großen Missverständnisse" - Marokko gegen Frankreich in einer Frankfurter Shishabar, F.A.Z. 17. 12. 2022

 

"Lächerlich, diese Aktion mit der One-Love-Binde" - Interview mit Sylvia Schenk, F.A.Z. 19.12.2022 

 

 


Oktober 2022

Künstliche Intelligenz in der PR. Der große Bluff?

Künstliche Intelligenz verändert unsere Welt - und natürlich auch die professionelle Kommunikation. Die Branche wäre nicht die Branche, würden Agenturen und Dienstleister bei der Beschreibung ihrer KI-gestützten Angebote nicht das ganz große Texter-Kino aufführen. 

 

„Finden Sie die relevantesten und aussagekräftigsten Insights mithilfe fortschrittlichster, KI-gestützter Sentimentanalyse“ bewirbt ein Anbieter seine „Social Intelligence-Produkte“. Und mit „KI-basierter Datenanalyse machen Millionen von Zusammenhängen und versteckte thematische Verbindungen plötzlich Sinn…“. Ganz plötzlich? 

 

Intelligenzfreier PR-Scheiß 

 

Demnach mäandern wir ohne solche Tools geradezu orientierungslos durch die Meinungs- und Themenwelten unserer Zielgruppen und Stakeholder. Kümmerlich ausgestattet nur mit der bloßen professionellen Erfahrung, verstehen wir so logischerweise weder angesagte Trends noch irgendwelche Consumer Insight und kreieren auch keinen „überzeugenden Content“. 

 

So richtig dramatisch wird es beim Blick in die Zukunft. Stichwort: Predictive Analytics. Man lese und staune: „Im Wesentlichen handelt es sich dabei um eine Kombination aus künstlicher Intelligenz und fortgeschrittenen Techniken im Bereich Data Science, die auf Datensätze – historisch oder in Echtzeit – angewandt werden, um zukünftige Ergebnisse vorherzusagen. Ein Blick in die Zukunft!“. Warum hat mir das noch niemand gesagt? 

 

Glaubwürdig geht anders

 

Vor allem, dass „unsere KI“ Daten durchsuchen kann, die “mit bloßem Auge nicht zu erkennen sind.“ Sie könne doch glatt „die Bewegungen der wichtigsten KPIs wie Resultate und Engagement für bis zu 90 Tage im voraus vorhersagen“. Da bleibt kein Auge trocken. Sollte das beschriebene „Forecast Feature“ auch noch ein bisschen Rechenleistung für die Rechtschreibprüfung übrighaben, wer wollte da nicht zugreifen? 

 

Das ist kein Einzelfall. Eine Agentur verspricht „KI-basierten Analysen“ in über 350 Millionen Quellen. Eine andere kombiniert „menschliche Intelligenz und KI-basierte Technologien“ zur „Augmented Intelligence“. Und ein internationaler Dienstleister stellt sogar in Aussicht, dass mittels KI-gestützter Analyse von Social Media Posts „Krisensituationen gar nicht erst eintreten und somit gar verhindert werden können“. Oha! ich kann also etwas verhindern, was gar nicht erst eintritt. Bullshit Bingo auf höchstem Niveau. 

 

Schnitt. Schauen wir doch mal arte

 

Was ist und was kann künstliche Intelligenz? Überhaupt und mal so ganz grundsätzlich? Es lohnt der Blick zu einer Ikone des viel gescholtenen, öffentlich-rechtlichen Journalismus: zu arte. Noch bis Mitte Dezember stehen in der arte-Mediathek zwei Sendungen über Künstliche Intelligenz zum Abruf. Wer ernsthaft mitreden will, sollte sich beide Sendungen anschauen. 

 

„KI im Test: Mensch vs. Maschine“, 55 Min. Verfügbar bis 13.12.2022. Nächster Termin: 23.10.22, 07:25 Uhr 

„Künstliche Intelligenz. Haben Maschinen Gefühle?“, 52 Min. Verfügbar bis 20.12.2022. Nächste Termin: 22.10.22, 21:45 Uhr

 

Die zentrale Botschaft lautet: Künstliche Intelligenz kann schon faszinierend viel, entwickelt sich rasant und stiftet echten Nutzen. Allerdings richten ihre Limitierungen in praktischen Anwendungen auch echten Schaden an. Das sagen zum Beispiel Erfahrungen aus Bewerbungsverfahren oder beim KI-geleiteten Scoring vom Zuschussberechtigungen im Gesundheitswesen. 

 

Die arte-Sendungen leisten eine intelligente wie unideologische Entmystifizierung der KI. Beispielhaft dafür steht die Aussage von Luke Stark, Informations- und Medienwissenschaftler an der Universität of Western Ohio: „Ich halte es für ein Hirngespinst, dass KI-Systeme in absehbarer Zeit die gleiche Intelligenz wie Menschen haben. (…) Ich mache mir Sorgen über die bestehenden KI-Systeme (…), die bestehenden Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten verstärken“.
 

Lernen wir was daraus? 

 

Die intelligente Verarbeitung großer Datenmengen und Informationen bietet faszinierende Vorteile und Potenziale für professionelle Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit. Selbstlernende Datensysteme, neuronale Netz etc. helfen uns, Entwicklungen und Veränderungen z.B. von Meinungen, Einstellungen und Verhaltensweisen besser und anschaulicher zu verarbeiten und zu verstehen. Sie bilden die Grundlagen, um denkbare - oder auch nicht denkbare - Zukunftsszenarien zu entwickeln und in Realtime-Simulationen in unterschiedlichsten Varianten zu antizipieren. Was unsere Fähigkeit für den Umgang mit der Zukunft substanziell verbessert. Gleichwohl: Voraussagen tun diese Predictive Analytics rein gar nichts. Und selbst mit künstlicher Intelligenz hat das nicht immer was zu tun.  

 

Erstmal verbal abrüsten – der Glaubwürdigkeit wegen

 

Das heißt: Solche Systeme helfen, die professionelle Kommunikation besser zu machen. Aber wir können und dürfen uns bei der Vorbereitung auf aktuelle und zukünftige Herausforderungen nicht ausschließlich auf sie verlassen. Denn ihr Bild der Zukunft setzt sich ausschließlich aus dem, noch dazu ausgesprochen eingeschränkten Blick in die Vergangenheit zusammen. Also ist zumindest sprachliche Abrüstung angesagt - sonst machen wir uns als Branche völlig lächerlich.


September 2022

documenta-Krise, Kulturschutz-Taliban, Woke-Buster

Das prmagazin hat gefragt, was ich von der Krisenkommunikation der documenta-Verantwortlichen halte. Meine Antwort: Nichts. Der Umgang mit dem Thema Antisemitismus bei der documenta fifteen gehört als negatives Lehrbeispiel in jede Ausbildung für professionelle Kommunikator:innen.

 

Wirksame Krisenkommunikation braucht eine klare Position zum krisenverursachenden Thema. Die hätte hier nur lauten können: Antisemitismus bleibt auch in der Kunst, was er ist:  Antisemitismus. Offensichtlich hat von den documenta-Verantwortlichen niemand das Konfliktpotenzial antizipiert, das in einigen, von dem indonesischen Künstlerkollektiv ruangrupa ausgewählten  Arbeiten steckte. Entsprechende Signale im Vorfeld der Ausstellung hat es offensichtlich genügend gegeben. 

 

Antisemitismus einfach laufen lassen ist das Gegenteil von Freiheit

 

Dem sich öffentlich zuspitzenden Konflikt wurde schnell der Mantel der Freiheit der Kunst umgehängt. Was den Eindruck verstärkte, es gehe vor allem darum, das eigene Versagen beim inhaltlichen wie kommunikativen Umgang mit dem Sachverhalt zu verdecken. Verhalten und Argumentation der documenta-Leitung wurden so zum Teil des Skandals. Kriseninhalt und Krisenkommunikation waren nicht mehr zu trennen, befeuerten sich gegenseitig. Das hat nicht nur die documenta beschädigt, auch die Freiheit.

 

Eine besondere Pointe setzte der neu berufene Geschäftsführer Alexander Fahrenholt mit seiner sinngemäßen Aussage, das Thema Antisemitismus sei zu groß, um es noch während der laufenden documenta aufzugreifen. Ich finde, wem der Umgang mit Antisemitismus zu groß ist, hat auf einem solchen Posten nichts verloren. 

 

Ein Vergleich der Themen verbietet sich, aber stellen wir uns nur mal vor, die Geschäftsführerin des Verbandes der Automobilindustrie VDA würde angesichts massiver Proteste von Klimaaktivisten gegen die Automobilindustrie sagen, das Thema Klimawandel sei zu groß, um auf einer laufenden Internationalen Automobilausstellung (IAA) behandelt zu werden. Der Teufel wäre los, und sie nicht mehr lange auf ihrem Posten. 

 

Das vollständige Interview ist im prmagazin 09/2022 erschienen. Hier Ausschnitte auf prmagazin.de und hartwinmoehrle.com.

 

 

Hilfe: Rettet den deutschen Winnetou

 

Womit wir bei einem anderen, nicht minder spannenden Krisenthema wären: dem vermeintlichen und tatsächlichen Shitstorm zum jungen "Häuptling Winnetou".  

 

Wir erinnern uns: Der Ravensburger Verlag hatte die Veröffentlichung von zwei Begleit-Büchern zu dem Film „Der Junge Häuptling Winnetou“ gestoppt. Der Grund: Offensichtlich wurde der Verlag vor Veröffentlichung wegen der Verbreitung kolonialistischer und rassistischer Klischees kritisiert. Es wurde zur Vorlage für eine BILD-Kampagne. Von einem „zivilisatorischen Versagen“ und der schieren Unterwerfung der Mehrheit unter eine radikale Minderheit fabulierte Neu-BILD-Kolumnist und ehemalige Mediamarkt-Werbe-Figur, Rechtsanwalt Joachim Steinhöfel: „Da schreien 200 Leute auf Twitter oder Instagram und schon kapituliert man.“ 

 

Aktivistische Kulturschutz-Taliban gegen mediale Woke-Buster

 

In einem Punkt hat er recht. Denn den eigentlichen Shitstorm hat nicht eine handvoll  Aktivist:innen ausgelöst. Wie die Content-Marketing-Agentur Scompler in einer umfassenden Mediendatenanalyse veranschaulichen konnte, war es vor allem die BILD selbst, die eine Rettungskampagne für den deutschen Winnetou lostrat und mit allem befeuerte, was an Ressentiment gegen rassismuskritische Stimmen aufzubieten war. 

 

„Es gab also keinen woken, sondern einen anti-woken Shitstorm“. schrieb der Berliner Kurier. Der traf allerdings auf eine empörungswillige, von rechts bis weit in die demokratische Mitte reichende Öffentlichkeit – und auf zahlreiche Medien, die ohne vertiefende Recherche auf die „Scheindebatte“ eingestiegen sind. Was die Autoren der Analyse schlicht als „Medienversagen“ bezeichneten. Da ist was dran. 

 

Nur Ressentiment-Journalismus oder schon Fake-Kampagne?

 

Ist das noch bloßer Ressentiment-Journalismus oder schon gezielte Desinformation? Erkennbar sucht die BILD-Zeitung nach Woke-Bustern wie Steinhöfel. Die sollen helfen, ihr Profil als die eigentliche Stimme des Volks neu anzu-„reicheln“. Die Winnetou-Kampagne ist ein Beispiel dafür, wie mediale und politische Populisten die Cancel-Culture-Debatte zur öffentlichen Mobilmachung gegen alles nutzen, was irgendwie nach woke, links-grün, progressiv, LGBTQ, gender-feministisch, öffentlich-rechtlich – hab ich was vergessen? – auch nur riecht. Allerdings machen es ihnen Kulturschutz-Talibans und Alles oder nichts-Fundamentalist:innen auch denkbar einfach, die Volksseele in Wallung zu bringen.   

 

Immer gefährlicher: professionelle Desinformation

 

Die Grenzen zwischen legitimer Meinungskommunikation und gezielter Desinformation als Mittel der Agitation, Destruktion und gezielten Schädigung verschwimmen zunehmend. Nicht nur Unternehmen wie Ravensburger bekommen das zu spüren. Fake News und gezielte Desinformationskampagnen werden insgesamt zur Gefahr für Wirtschaft und öffentliche Institutionen. Deshalb gehört das Thema Desinformation definitiv in das Szenario-Portfolio jedes Crisis-Readiness-Systems. Dem Verlag hätte es wahrscheinlich einigen Ärger erspart.

  

 

Interessante Links

 

Scompler: Medienanalyse  Winnetou-Debatten

https://scompler.com/winnetou/

 

BILD-Kolumnist Steinhöfel in BILD-TV 

https://www.youtube.com/watch?v=mE2LewOINmE

 

HeuteShow mit Oliver Welke
https://www.youtube.com/watch?v=B8PahoBvHJ8

 


Deutschlandfunk: Kommentar zur Kommunikation von Ravensburger 
https://www.deutschlandfunk.de/winnetou-debatte-ravensburger-100.html

Desinformationskampagnen als Gefahr für die Wirtschaft 
https://prevency.com/de/desinformationskampagnen-als-gefahr-fuer-die-wirtschaft/

https://prevency.com/de/digitale-desinformation-bekaempfen-tipps-zum-umgang-mit-fake-news-co/


August 2022

Die Kommunikation der Zukunft ist neuronal - vom Newsroom zum Metaverse und Corporate Avatars.

„Kollege Roboter“ betitelte der PR-Report in Ausgabe 4/22 einen Text über die zunehmende Zahl von Anbietern KI-erstellter Texte. Deren Qualität werde immer weniger unterscheidbar von menschlich gedengelten Produktbeschreibungen, Slogans, Newslettern, Blog-Artikel usw. Von künstlicher Intelligenz verfasste Texte würden „schneller zum Alltag gehören (…) als selbstfahrende Autos auf unseren Straßen“, ist sich der Autor, selbst Mitinhaber einer Kommunikationsagentur sicher. 

 

Vermutlich hat er recht. Reichlich futuralen Anbieterversprechungen wie „Wirkungsvorhersage des Textes“ sollten wir zwar mit gesunder analoger Skepsis begegnen, die digitale Disruption der professionellen Kommunikation wird beim „Data Driven Copywriting“ allerdings nicht halt machen. 

 

Predective Analytics sagen nichts voraus.

 

Das Stichwort Predective Analytics geistert schon ein paar Jahre durch die Szene. Die Erfassung und Auswertung von großen Mengen öffentlich verfügbarer Daten und Informationen mithilfe neuronaler Systeme verändert das klassische Monitoring nachhaltig. Medienresonanzkurven waren gestern, heute blicken wir auf Muster, Cluster, Profile, Verdichtungen und Verästelungen – auf die Synapsen und Nervenstränge der Kommunikationsgesellschaft. Wir erhalten visuell aussagekräftige Darstellungen von Meinungsbildern und Thementrends, von Akteur:innen und deren Vernetzungsprofilen. Wenn es sein muss in Echtzeit. Technisch machbar ist das. 

 

Klar ist jedoch auch: Predective Analytics-Systeme sagen rein gar nichts voraus. Aber sie verbessern die Qualität und Variabilität der prospektiven Szenariobildung, etwa beim Themen- und Issues-Management, in der Markenentwicklung oder bei umfassenden Akzeptanzfragen. Die gute Nachricht: Entscheidungen müssen wir auf absehbare Zeit immer noch selbst treffen. Alles andere ist Marketinggeklingel.

 

Was kommt nach dem Newsroom?

 

Denken wir weiter. Ein Szenario: Der Newsroom als Inkarnation für disziplinen-, themen-, abteilungs- und länderübergreifender Kommunikation erlebt im wahrsten Sinne des Wortes eine Metamorphose: aus der Corporate Communication wird Corporate MetaCom – das kommunikative Metaverse. Das neue Kommunikationsmodell heißt: neuronale Kommunikation. Alles ist mit allem, was Sinn macht vernetzt, nach innen und nach außen. Die kommunikative Gewaltenteilung wird durch differenzierte Berechtigungen geregelt. Zugriff auf die Corporate Public Library – sie hält alle wichtigen, aktuellen und öffentlichkeitsrelevanten Daten zum Unternehmen bereit – haben neben Management und Mitarbeiter:innen auch berechtigte Journalist:innen, Politiker:innen und relevante Stakeholder. Der Aufwand für die individuelle Beantwortung immer wieder gleichen Fragen dürfte sich dramatisch reduzieren. Kollateraler Zusatznutzen: die nachhaltige Pflege eines jederzeit aktuellen, kommunikativen Bedarfs- und Anforderungsprofils für die jeweilige Organisation. Doch es kommt noch besser.

 

Avatare für die Öffentlichkeitsarbeit? Warum nicht.  

 

Journalist:innen kennen das: Die Sprecherin, der Sprecher des Unternehmens ist gerade nicht verfügbar. Kein Problem. Im kommunikativen Metaverse verfügen ÖA-Verantwortliche über einen oder mehrere Avatare. Die stehen für individuelle Anfragen rund um die Uhr zur Verfügung. Vor allem: Die können schneller und mehr valide, noch dazu anschaulich aufbereitete Informationen liefern als das humane Original jemals könnte. Schließlich greifen sie just in time auf alle Infos und Materialien zu, die im organisationseigenen Public Information Management System (PIMS) zur öffentlichen Kommunikation freigegeben sind. 

 

Rapid Response mit dem Digital War Room.

 

Besonders nützlich erweisen sich derartigen Systeme in krisenhaften Situationen mit multiplen und zeitkritischen Informationsbedarfen. Mit dem PIMS vernetzt ist der Digital War Room (DWR), ein auf Rapid Response - Kommunikation spezialisiertes KI-gestütztes, Informationsmanagement-System. Innerhalb weniger Minuten werden Anfragen auf Beantwortbarkeit, Risikofaktoren (operative und wirtschaftliche Auswirkungen, Reputation, Strafbarkeit …) Dringlichkeit etc. einem Pre-Check unterzogen. Das System hilft auch bei der Erstellung eigener FAQs, dem Füttern der Hotline-Bots und bei der Konfiguration von Risikoszenarien für die Ad hoc-Simulation im virtuellen Krisensimulator.  

 

Im menschlich besetzten Krisenstab „sitzt“ selbstverständlich auch ein DWR-Avatar und erläutert völlig unaufgeregt die Grundlagen seiner/ihrer Empfehlungen. Am Ende entscheiden natürlich die Menschen, was, wann von wem kommuniziert und in welche Kanäle und Netzwerke ausgespielt wird. 

 

Neue Kommunikationstypen in virtuellen Teams.

 

Die MetaCom-Abteilung hat nur wenige Mitarbeiter:innen - und gleichzeitig ganz viele. Ein Kernteam steuert virtuelle Kommunikationsteams. Die werden je nach kommunikativem und fachlichem Bedarf aus Kolleg:innen unterschiedlicher Bereiche und Märkte temporär gebildet. Wer dazu gehört, hat ein Auswahl- und Qualifizierungsverfahren durchlaufen, in dem neben fachlichen vor allem kommunikativen Fähigkeiten gecheckt wurden. Der Kommunikationsstil: ausdrucksstark, anschaulich, direkt, souverän, kritisch, glaubwürdig. Die neuen Kommunikationstypen gibt es schon, in jeder Organisation. Es gilt sie nur finden. 

  

Das größte Problem der Zukunft ist die Gegenwart.

 

Professionelle Kommunikation in Unternehmen, Verwaltungen, Institutionen, Verbänden etc., wird vernetzter, dezentraler und agiler werden. Sicher, die iRobots der PR müssen noch gebaut werden. Aufbau und Pflege von leistungsfähigen, neuronalen und KI-gestützten Datensystemen ist nicht gerade trivial, aber machbar.

 

Gleichwohl, ich höre die Entsetzensschreie aus Redaktionen und PR-Abteilungen: „dermenschlichekontaktdieauthentizitätfehltkeindatenschutzmiteinemroboterredeichnicht…“

Ok, daran muss man arbeiten. Doch Menschen von Arbeit zu entlasten, die nicht zwingend Menschen machen müssen oder die etwa ein neuronales System einfach besser kann. Das sollten wir uns leisten. Damit wir uns auf das konzentrieren können, was KI-Systeme noch lange nicht annährend so gut können werden wie wir: mit professioneller Intuition das Richtige tun. 

 

Das größte Problem der Zukunft liegt freilich in der Gegenwart. Was mancherorts als vernetzte Organisation angepriesen wird, entpuppt sich nicht selten als digital getarntes Old-School-Haus. Wo Hierarchien, Kompetenzen und Prozesse weiterhin auf traditionellen Management- und Entscheidungsmustern basieren, wird aus keinem einzigen. so genannten Social Intranet eine auch nur annährend agile, fluide und leistungsfähige New Work-Struktur.  

 

Kommunikator:innen könnten vorangehen.

 

Warum gehen die Profi-Kommunikator:innen nicht voran? Tun sich zusammen mit innovativ denkenden Soft- und Hardware-Techies und schaffen zunächst mal kleine Simulationsprojekte für die Kommunikation der Zukunft. Die interdisziplinären und bereichsübergreifenden Kompetenzen hätten sie. Natürlich braucht es am Ende auch ein Mandat. Doch das gibt es nicht ohne Vorlage: um Entscheider:innen zu überzeugen, vielleicht sogar zu faszinieren. Go ahead!

 

   

Hinweis:

Das prmagazin veröffentlich in seiner Septemberausgabe (Erscheinungsdatum 07.09.2022) einen Artikel über den aktuellen Stand zum Thema virtuelle Krisensimulationen. 

 

Interessante Links: 

Maschinelles Texten zum selbst probieren: „Talk to a transformer“

Data-Driven-PR:

https://de.slideshare.net/jhoewner/cognitive-pr-datengetriebene-kommunikation-und-ki-in-der-pr-handlungsfelder-und-ansatzpunkte 

https://www.newsaktuell.de/blog/top-10-woran-data-analytics-in-der-pr-am-haeufigsten-scheitert/

Krisensimulation:
https://prevency.com/de/


Juli 2022

"Nichts von mir im Netz stimmt" - über digitale Selbstverteidigung im Netz

Digitale Selbstverteidigung. Geht das?

 

Echt jetzt, du verrätst dein richtiges Alter, wenn eine Website dich dazu auffordert? Und deine private Mailadresse auch? Womöglich noch das richtige Geschlecht? Bass erstaunt schaut mich meine junge Gesprächspartnerin an: „Ey Alter“. Eigentlich meint sie „alter weißer Mann“. Dann gibt sie mir Einblick in ihre Art der digitalen Anarchie: „Nichts von mir im Netz stimmt.“  

 

Kreativer Widerstand gegen die digitalen Raubritter

 

So weit bin ich noch nicht. Doch mit Google suche ich schon lange nur noch im Ausnahmefall. Es gibt gute, diskrete Alternativen. Einkaufen bei Amazon? Nur, wenn es nicht anders geht. Onlineshopping generell läuft komplett über eigens dafür generierte Mail-Adressen. Apple macht´s komfortabel möglich. Zudem verhindern die Einstellungen in meinem digitalen Devices soweit eben machbar ungefragtes Tracking. Nur bei Facebook bin ich noch „ich“, der Familie in Übersee wegen. Nützt das was? Nach dem Besuch mehrerer Seiten von Kameraherstellern werde ich immer noch wochenlang mit „personalisierter“ Kamerawerbung bombardiert. Obwohl ich inzwischen eine gekauft habe. Ist das smart? Nein, das ist dumm.  

 

Ein bisschen persönlicher Widerstand gegen die digitale Raubritterei ist möglich. Doch trotz DSGVO, Anti-Trust-Regularien und wohlgetexteten „Privacy“-Versprechen der großen und kleinen Trader und Anbieter: Vom 1984 eingeführten Grundrecht der informationellen Selbstbestimmung sind wir weit entfernt. Ganz zu schweigen von der im Oktober 2019 von der Datenethikkommission (DEK) in Spiel gebrachten „digitalen Selbstbestimmung“. 

 

Wir sind vor allem auch selbst schuld

 

Aber bleiben wir bei der ganzen Wahrheit: Die User selbst sind es ja, die bedenkenlos private Daten und individuelle Profile ins Netz schleudern und damit die Geschäftsmodelle von Meta, Google, Amazon und seit einiger Zeit auch von chinesischen Konzernen und Marken wie Tencent und TikTok am Laufen halten. 

 

Natürlich bekommen wir Gegenleistungen dafür, aber wir zahlen dafür einen Preis. Der „autonome Konsument“, wie ihn die Werbeindustrie schon in den 90er-Jahren ausgerufen hat, ist im Big Data-Zeitalter unter die digitalen Räder geraten. Einen „Fair Deal“ zwischen Nutzer:innen und Anbieter:innen gibt es nicht. Ich halte das für ein Problem, nicht nur für die Autonomie des Individuums, sondern auch für die demokratische Gesellschaft als Ganze.

 

Mehr Kontrolle darüber, wann, wie und warum wir unsere Daten teilen

 

In seinem 2017 erschienenen Buch „Data for the People“ spricht der deutschen Physiker  Andreas Weigend von „Rohdaten“, die von „Datenraffinerien“ zwecks Veredelung zu neuen Produkten und Dienstleistungen verarbeitet werden. Weigend hat für Amazon und Facebook als Berater gearbeitet, kennt deren Geschäftsmodelle. Er steht auf dem Standpunkt, dass wir „ …statt Bezahlung für unsere Rohdaten zu verlangen, wirkungsvollere Möglichkeiten einfordern sollten, um die Kontrolle darüber zu erlangen, wie, wann und warum wir unsere Daten teilen, wofür diese verwendet werden dürfen und was wir als Ergebnis dabei herausgekommen.“

 

Auf den ersten Blick klingt das nach digitaler Räterepublik und Metaverse-Sozialismus. Weit gefehlt. Weigend sagt ganz klar: Nur echte, valide Daten über Interessen, Vorlieben und Verhaltensweisen ermöglichen den Datenraffinerien sinnvolle und nutzenstiftende Erzeugnisse zu fertigen. Für die Kosten-Nutzen-Abwägung zwischen mehr Nützlichkeit und weniger Privatsphäre fordert er jedoch eine „Machtbalance“ zwischen denen, die den besonders sensiblen Rohstoff „Privacy“ zur Verfügung stellen und denen, die mit ihm Geld verdienen. Sein Vorschlag: Transparenz über Art und Umfang der Verwendung und die Möglichkeit zur Intervention, wenn Verwendungen nicht gewollt sind. Und das Recht, die individuellen Daten nach deren Nutzung wieder zurück in die geschützte Privatsphäre zurückholen zu können. 

 

Digitale Übergriffigkeit ist ein Angriff auf die Freiheit

 

Bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Mit lockenden Metaverse-Verheißungen versucht Mark Zuckerberg die Hemmschwellen für ungebremsten Rohdaten-Zufluss auf sein nächstes großes Ding präventiv zu senken. Die Unbedenklichkeit, mit der ganze Industrien Terabytes an persönlichen Daten und Interaktionsprofilen auf die TikTok-Server schaufeln, ist atemberaubend. Zumal alle wissen, dass die in einem Staat laufen, der jederzeit Zugriff hat und nimmt, wenn er seine totalitäre Ordnung durch zu viel individuelle Freiheit bedroht fühlt. Und Google schafft es trotz erkennbarer Anstrengungen nicht, sein Geschäftsmodell substanziell zu diversifizieren, bleibt also auf absehbare Zeit ganz oben auf der Datensauger-Skala. 

 

Sie sind nicht allein. Als vor Jahren LinkedIn in Deutschland startet und ich Mitglied werde - komme ich in den Genuss einer wundersamen Freund:innen-Vermehrung. Über einen längeren Zeitraum hinweg finden sich immer wieder Menschen in meiner Freundesliste, die ich gar nicht kenne. Direkte Kontaktaufnahmen mit denselben schüren einen Verdacht: Könnte hier ein wohlmeinender Freund:innen-Generator am Werk sein? Als ich mich bei LinkedIn beschwere, wird mein Verdacht geradezu empört zurückgewiesen. Die Freund:innenvermehrung hört danach auf.  

  

Wann kommt der Persönlichkeitsgenerator als App?

 

Lohnt die digitale Selbstverteidigung? Ich meine ja. Verkürzen wir uns also das Warten auf multinationale Regeln und Regulierungen zum Schutze der digitalen Selbstbestimmung mit kleinen Guerilla-Aktivitäten gegen die Wirkmechanismen des kommerziellen Datenraubs. 

 

Vielleicht basteln findige Programmierer:innen ja eine App, die nichts anders macht, als multipel Persönlichkeitsprofile zu generieren: eine für Instagramm, eine andere für den britischen Hemden-Lieferanten, noch eine für die Fotocommunity und eine gänzlich unverdächtige für die Online-Vinothek. Oder gibt es die etwa schon? Der/die autonome Konsument:in ist machbar. 


Juni 2022

Corona, Krieg und Social Media schaffen einen neuen Kommunikationsstil: den Habeck-Standard 

 

Warum sieht Olaf Scholz als Kommunikator seit Wochen so schlecht aus? Weil als Benchmark neben ihm nicht mehr die Altmeiers, Spahns und Karliczeks ihre Worthülsen in die Mikrophone stanzen. Mit Robert Habeck und Annalena Baerbock erleben wir zwei Kommunikationstypen, die ihre Art zu kommunizieren zum neuen Goldstandard nicht nur der politischen Kommunikation erheben. Ganz zu schweigen von dem ukrainischen Präsidenten, der mit zwei ehemaligen Berufsboxern an seiner Seite unter weitaus dramatischeren Umständen neue Maßstäbe in der Kommunikation setzt.

 

Der Habeck-Standard: Was macht den neuen Stil so neu?

 

Die Zeitenwende in der professionellen Kommunikation hat mindestens schon vor zwei Jahren, mit Beginn der Pandemie und mit Leuten wie Christian Drosten, Sandra Ciesek, Melanie Brinkmann oder Mai Thie Nguyen-Kim begonnen: Komplexe Dinge einfach erklären, nicht um Tatsachen herumreden. Mit dem Mut zur Wahr- und Klarheit sachlich und empathisch zugleich sein, auch mal eigene Zweifel zulassen. Vor allem nicht so tun, als hätte man für alles eine Lösung. Viel mehr anschaulich erläutern, wie und woran gerade an Lösungen gearbeitet wird. Und Widerspruch nicht wegignorieren, sondern aktiv und argumentativ aufgreifen.

 

Im neuen Ökosystem der Kommunikation geht es um Augenhöhe, für alle.

 

Die umfassende digitale Vernetzung durch Internet und Soziale Medien hat eine nie dagewesene kommunikative Unmittelbarkeit etabliert. Immer weniger werden Inhalte über mediale Gatekeeper zeitlich versetzt verarbeitet und distribuiert. Immer häufiger senden Absender:innen ihre Botschaften über soziale Netzwerke ohne Umweg direkt an ihre Adressaten. Inzwischen macht das der CEO der Telekom genauso wie die Beauty-Influencerin oder der selbsternannte Staubsauger-Tester. Deren Zielgruppen reagieren direkt und verbreiten die Inhalte inklusive eigener und fremder Kommentierungen in die eigene Community hinein. Das ist nicht nur ein neuer Vertriebsweg. Laut Lars Niggemann, Gründer und CEO von  PREVENCY erfordert das „neue Ökosystem der Kommunikation“ substanzielle Veränderungen in Art und Inhalt der Kommunikation selbst. „Augenhöhe“ lautet das Erfolgskonzept der Social Media-Kommunikation. Das betrifft nicht allein die Inhalte, sondern das gesamte Setting: Haltung, Kleidung, Orte, Licht etc. Das verändert auch die Live-Kommunikation.     

 

Nicht vergackeiern: Die neue Benchmark gilt auch für die Unternehmenskommunikation.

 

Wenn man, wie Robert Habeck vor die Mitarbeitenden der GKF-Werft tritt und sagt: „Ich will euch nicht vergackeiern“, dann muss danach etwas kommen, was den Leuten nichts vormacht. Etwas, dass Orientierung schafft, eben weil die Situation unklar ist. Was die Ernsthaftigkeit der Botschaft untermauert, ob sie gefällt oder nicht. Damit verbieten sich austauschbar wirkende Sprechmuster und pseudoinhaltliche Botschaftsimitate. Die Leute merken das, und zwar schon lange. Die Leute dürfen spüren, dass die Verantwortlichen um echte Lösungen ringen. Und sie wollen konkret wissen, was sie tun und wie sie daran arbeiten. Das setzt die neuen Benchmarks. Wer beim kommunikativen Handling von Werksschließungen, Restrukturierungen und ähnliche Konfliktlagen in Zukunft hinter den Habeck-Standard zurückfällt, sieht alt aus.

 

Personale Kommunikation: der neue Stil braucht neues Üben. 

 

Darauf läuft es wohl hinaus. Wem qua Amt und Aufgabe eine öffentliche kommunikative Rolle zukommt, sollte sich mit dieser Art der personalen Kommunikation intensiv auseinandersetzen – und üben. Mit den Sprech- und Medientrainings klassischen Zuschnitts kommt man damit nicht weit. Die neuen Trainingsformate werden anders gebaut: In Zukunft geht es um die Simulation von kritischen Situationen in ihrer ganzen Unmittelbarkeit. Wo der Stress, die sprachlichen, nervlichen und körperlichen Fähigkeiten und Grenzen erfahrbar und reflektierbar werden. Es geht um den virtuellen deep dive zur Entwicklung der persönlichen kommunikativen Leistungsfähigkeit im wirklichen Leben. Aus rhetorischen Sicherheitstrainings werden Ertüchtigungsübungen in glaubwürdiger Kommunikation. 

 

Kommunikationstraining mit Controller und VR-Brille.

 

Die digitale Technik hilft. Neue Generationen von virtuellen Trainingswelten und -geräten ermöglichen heute schon immersive Erfahrungen, die die Schweißausbrüche vor laufender Übungskamera als reines Zuckerschlecken erscheinen lässt. Vermutlich wird es nicht mehr lange dauern, bis wir den Auftritt auf einer konfliktträchtigen Betriebsversammlung zum Beispiel im firmeneigenen Metaverse-Trainingscenter vorab simulieren können. 

 

Jenseits der Technik werden zwei Dinge entscheidend sein. Erstens: Es braucht es eine professionelle Grundhaltung, mit der die eigene, externe wie interne öffentliche Rolle durchdrungen, verstanden und individuell gestaltet wird. Zweitens: Der Entwicklung eines entsprechenden personalen Kommunikationsprofils kommt eine noch höhere Bedeutung zu. Und sie wächst mit jeder erklommenen Verantwortungsstufe.

 

Links zum Thema

 

Habeck, der YouTube-Star

Habeck ist gold, aber gute Kommunikation ist noch keine gute Politik

Habecks Kommunikation, Der Spiegel 

Social Media und Krisenkommunikation

 

 


Mai 2022

Können wir keine Krisen mehr?

 

Deutschland taumele von Krise zu Krise und sei nie vorbereitet, schreibt Patrick Bernau im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 13. März. „Was läuft da schief?“, fragt der Autor. Die aktuelle pandemische und geopolitische Krise hat auf dramatische Art und Weise den Fokus auf ein Phänomen gelenkt, was in weiten Teilen unserer Gesellschaft verankert scheint. Wir können keine Krise mehr. Zugegeben, das ist spitz. Viele in Politik und der Wirtschaft würden das weit von sich weisen. Warum ist da doch etwas dran?

 

Erinnern wir uns an die Finanzkrise. Danach stand der Risiko-Begriff als Vorläufer aller Krisen auf dem öffentlichen Index. Nicht wenige Kommentatoren forderten, die Finanzindustrie möge doch bitte schön in Zukunft ohne jedes Risiko agieren. Also jedem Anlagevertrag noch eine Verlustrisikoversicherung beilegen, zum Preis einer Fahrradversicherung versteht sich. Rendite ohne Risiko. Warum nicht gleich die Lebensrisiko-Police mit anbieten?

  

Ohne Risiko kein Wohlstand, kein sozialer Fortschritt, keine Kultur

 

Ein fundamentales Missverständnis. Weder Sozialstaat noch Volkswirtschaft, geschweige denn die Kultur wären auch nur annähernd auf dem heutigen Stand, wenn nicht mutige Menschen unentwegt Risiken eingehen würden: Ohne unternehmerisches Risiko kein Wohlstand, ohne politische Risiken kein sozialer Fortschritt, ohne persönliche Risiken kein Erfolg, ohne künstlerische Risiken keine Kultur. 

 

Der Doyen der US-amerikanische Krisenkommunikationswissenschaften, Robert L. Heath, hat 2009 den geradezu paradigmatischen Satz formuliert: „A crisis is a risk manifested.” Was nichts anderes bedeutet als die Bereitschaft und Befähigung, mit den Risiken, die wir haben und eingehen, möglichst aktiv und offensiv zu leben und zu arbeiten. 

 

Damit hat Heath damals schon einige bis heute verbreiteten Routinen des professionellen Risiko- und Krisenmanagements in Frage gestellt: Handbücher schreiben, Aktionspläne und Sprachregelungen verfassen, Notfallübungen abhalten und ansonsten hoffen, dass nichts passiert. Prämissen, die schon lange nicht mehr hinreichend sind. Und seien wir ehrlich: Ein Großteil der existierenden, vielfach hochkomplexen Präventionsstrukturen in Unternehmen und Institutionen sind alles andere als praxistauglich. Von den Krisenmanuals, die keine sind, ganz zu schweigen. Das gilt im operativen Krisenmanagement und für die Krisenkommunikation erst recht.

 

Das neue Normal: Risiko- und Krisenmanagement als Daueraufgabe 

 

Der Überfall der Putin-Armee auf die Ukraine wird nicht nur militärisch, sondern auch in Wirtschaft und Gesellschaft einen Paradigmenwandel im präventiven Risiko- und Krisenmanagement beschleunigen: Risiko- und Krisenszenarien schonungslos entwickeln und simulieren, mit mehr Variablen und Varianten arbeiten, dynamische Entwicklungen einbauen. Und zwar möglichst „on the fly“, als integraler Bestandteil des professionellen Alltags.

 

Schließlich stehen wir ganz abgesehen vom Ukraine-Krieg vor regionalen, nationalen und globalen Herausforderungen, die den Normalzustand in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft immer mehr zu einem permanenten Risikomanagement machen, krisenhafte Zuspitzungen mit inbegriffen.   

 

Neue Bedrohungen kommen hinzu, Stichwort Cybercrime. Schon heute kämpfen Unternehmen, Stadtwerke und Krankenhäuser gegen cyberkriminelle Erpresser. Besondere Konjunktur erlebt das Instrument der Desinformation. Die unter Stalin und in der Sowjetunion bereits zu beträchtlicher Qualität gebrachte Form der informativen Kriegsführung entwickelt in der digital vernetzen Welt ganz neue Qualitäten. Dazu braucht es noch nicht einmal ausgewachsene Despoten. Engagierte Querdenker oder böswillige Wettbewerber reichen da völlig aus.

 

Um mit den neuen Risiken zurechtzukommen, müssen wir selbst mehr Risiko wagen. Krisenprävention in digital vernetzen, sich permanent dynamisch entwickelnden Strukturen heißt vor allem, in selbigen zu denken und zu arbeiten. Und zwar jeden Tag.

 

Resilienz durch innere Stärke

 

Das Zauberwort lautet Krisenresilienz. Damit nimmt ein weiterer Paradigmenwandel im Risiko- und Krisenmanagement Fahrt auf. Risiken einschätzen und im Krisenfall das richtige tun müssen alle lernen, die Verantwortung tragen, nicht nur offiziell bestellte „Crisis Manager“. Die wird es auch weiterhin geben, mit all dem dazugehörigen Spezial-Know how und vor allem der einschlägigen Erfahrung. 

 

Die Krisenfähigkeit einer Organisation wird in Zukunft vor allem auch von ihrer inneren Resilienz und Stärke abhängen. Crisis Readiness heißt das Ziel. Dazu braucht es auf allen Ebenen Kräfte, die mindestens über Grundlagenqualifikationen in Risiko- und Krisenmanagement verfügen. Was wiederum erhebliche Anforderungen an Krisentrainings im Speziellen und an die Führungskräftequalifikation insgesamt stellt. 

  

Serious Risc Gaming: die digitale Simulation komplexer Risiken und Krisen 

 

Die digitalen Möglichkeiten eröffnen hierfür gänzlich neue Trainings- und Erfahrungsräume. Wir schaffen realitätsnahe Szenarien, in die wir eintauchen können. Dort durchleben wir Krisen, probieren Lösungen, machen Fehler und lernen, sie zu korrigieren, als Teil eines großen, ernsthaften Spiels. Die Stichworte lauten: Virtuelle Realität, Serious Gaming und Immersion, also die professionelle Simulation von antizipierter Wirklichkeit.

 

Es gibt bereits Systeme, die so arbeiten. Sie machen es zudem möglich, Risiko- und Krisenszenarien in den laufenden Betrieb einzuspeisen. Auf Krise machen im Schulungszentrum verliert an Bedeutung. Im wirklichen Leben spielt die Musik: Weniger Notfälle üben, mehr Risiken simulieren. Weniger Abläufe schulen, mehr Krisen spielen. Weniger Jahresübungen, mehr Risk & Crisis-Checks bei laufendem Geschäft. 

 

Die Lern- und Erfahrungseffekte erhalten im immersiven Erlebnisraum neue Qualität. Sie fördern und stärken eine offensive und angstfreiere Haltung im Umgang mit Stärken und Schwächen, mit professionellen und persönlichen Risiken. Mehr denn je wird es in Zukunft um die Befähigung zur Crisis Leadership als Teil der Management Performance insgesamt gehen. Ganz nach dem Satz von Max Frisch: „Krise ist ein produktiver Zustand. Man muss ihm nur den Beigeschmack der Katastrophe nehmen“.

 

Hierzu interessant: PREVENCY GmbH