Juni 2023

Whistelblowing zwischen echtem Schutz, Denunziation und absurder Überregelung.

Es ist da, das neue Hinweisgeberschutzgesetz. Ab dem 2. Juli 2023 sind so genannte Hinweisgebersysteme für Unternehmen mit mehr als 250 Mitarbeitenden Pflicht, ab 1. Dezember 2023 schon ab 50 Beschäftigten.    

Denunziatorische Atmosphäre

 

Endlich, sagen viele. Für sie ist das staatlich verordnete „Whistleblowing“ eine wichtige Säule der Compliance. Keine Hinweisgeber:in soll in Zukunft fürchten müssen, für seriöse Hinweise als Denunziant:in beschimpft, abgestraft oder zum Auswandern gezwungen zu werden. Da Moskau derzeit ausfällt, blieben vielleicht Oberbayern oder eine Nordsee-Hallig.

 

Der Chef-Personaler eines international operierenden Handelskonzerns warnte vor dem Entstehen einer „denunziatorische Atmosphäre“. Und steht damit wohl stellvertretend für die Kritiker dieser Spielart der Corporate Governance.

 

Groteske Fehlentwicklungen

 

Kontroverse Positionen zum organisierten „Whisteblowing“ gibt es seit Existenz des Begriffs. Spätestens der Siemens-Skandal hat die bisweilen hektische Implementierung entsprechender Meldesysteme forciert - mit zum Teil schrägen Folgen. Ein Tech-Konzern aus Süd-Korea bot seinen Beschäftigten an, Regelverstöße auf direktem Wege in die Zentrale nach Seoul zu melden. Der Kanal wurde alsbald wegen Verödung geschlossen.

 

Allzu offen und niederschwellig ausgerollte Meldesysteme wiederum gerieten zur betrieblichen Klagemauer. Compliance-Abteilungen wurden überschüttet mit „Hinweisen“ auf Kolleg:innen, die penetrant ihre Pausen überzogen, firmeneigenes Toilettenpapier privatisierten oder Vorgesetzte, die verbotenerweise in ihrem Dienstwagen rauchten.   

 


Regelsysteme: Bis ins Absurde reichende Komplexität

 

Für eine zielführende Positionierung des „Whistleblowing“ in den Organisationen ist der gesetzliche Rahmen sicher sinnvoll. Er bringt aber auch eines mit sich: noch mehr Regeln. Womit wir bei einem manifesten Strukturproblem der Legal Compliance sind. 

 

Lange schon ächzen viele Compliance-Systeme unter weitreichender Überregelung. Absurd überbordende und hochkomplexe Vorschriftenkonvolute verfestigen das Negativ-Image der Compliance als „Leistungs- und Geschäftsverhinderungsinstrument“ und stehen damit ihrer Wirksamkeit selbst im Wege. 

 


Compliance: Immer noch kein „Business Enabler“

 

Allen jahrelangen kommunikativen Anstrengungen zum Trotz: Corporate Compliance steht immer noch viel zu wenig für „Business Enabling“. Sprich, für ein Instrument, mit dem Geschäfte und Dienstleistungen gerade deswegen möglich werden, weil risikominimierende Schutzmechanismen den verantwortlichen Akteuren Handlungssicherheit geben.  

 

Das verwundert nicht. Solange Manager:innen beispielsweise vorgeschrieben wird, dass sie ihren Geschäftspartnern zwar ein Mineralwasser, nicht aber einen Kaffee ausgeben dürfen, wird nicht Sicherheit, sondern institutionalisiertes Misstrauen zur Dauerbotschaft: „Wir trauen dir nicht zu, selber zu entscheiden, was richtig ist und was nicht.“ Also werden für die überwiegend rechtschaffen und gesetzestreu arbeitenden Belegschaften alle nur erdenklichen Risikosituationen niedergeregelt 

 

 

Informelle Sozialkontrolle 

 

Im regulatorischen Dschungel verliert sich bisweilen der Blick auf das Wesentliche. Dazu gehört die regelkomplementäre und unabdingbare Verankerung von Wirkmechanismen intrinsischer Risikominimierung. Prof. Kai Bussman von der Universität Halle nennt das „informelle Sozialkontrolle“. Wenn also die Kollegin zum Kollegen sagt: „Hör mal, das ist nicht in Ordnung, was du da gerade machst. Lass das bitte mal abchecken.“ Hier fängt die in der Compliance so oft propagierte „Speak Up Culture“ an. Und damit viel anspruchsvollere Vermittlungsarbeit, als tausend E-Learning-Seminar jemals leisten können.

 


Mut, Eigenverantwortung und Risikobereitschaft werden karikiert 

 

In der verregelten Organisation verstecken sich die sowieso schon wenig risikofreudigen Menschen erst recht hinter den Regeln, machen ihren Job nur nach Vorschrift. Oder wie es die Leiterin einer Behörde formulierte: „Wir arbeiten nur noch mit Helm und dicken Handschuhen.“ Tja, dann dauert die Bedienung des Faxgeräts halt auch etwas länger.

 


Komplexe Regelsysteme ausmisten

 

Vor allem konterkariert diese Entwicklung, was seit Jahren in aufwendigen Trainingsprogrammen versucht wird, landauf landab bei Führungskräften zu verankern: eigenverantwortliches, agiles Handeln, Mut zum kalkulierten Risiko, zu innovativen Ideen und dem viel bemühten „Thinking out of the box“. Alles Dinge, die unternehmerisches und institutionelles Handeln zwingend benötigt, um erfolgreich zu sein - auch und gerade beim Integrity Management und einer werteorientierten wie gewinnbringenden Unternehmensführung. Das mutige Ausmisten real existierender Compliance- und Integrity Management-Systeme ist überfällig. „Reduce to the max“.

 


Wertemanagement und Wertschöpfung zusammenbringen

 

Das ist die eine Sache. Mehr denn je wird es in Zukunft darum gehen, bislang zu weit nebeneinander herlaufende Handlungsstränge miteinander zu verknüpfen: Wertemanagement und Wertschöpfung, Regelkultur und Geschäftsmodell. 

 

Werte wie Integrität, Verantwortung und Nachhaltigkeit gehören als harte Währung zur erfolgreichen Unternehmensführung. Damit müssen sich Gewinne erwirtschaften lassen. Sie taugen zum Leitbild nicht nur für integre, sondern auch für erfolgreiche Manager:innen. 

 

 

Konkrete, auch monetäre Anreize schaffen

 

Zwingender aus meiner Sicht: die Ergänzung der Anreiz- und Belohnungssysteme. Gutes Geld gibt es nur für gute Geschäfte. Heißt, für erfolgreiches, weil integres und nachhaltiges Wirtschaften. Dafür muss Integrität aus der Wertebibliothek herausgeholt und zur direkten, programmatischen Führungsaufgabe, zum Managementleitbild entwickelt und verankert werden. Wobei, wie kann es anders sein, die Kommunikation eine erfolgskritische Rolle spielt. 

    

 

Mai 2023

Weniger arbeiten, gleiches Geld, mehr Leben?

Vier-Tage-Woche, Fachkräftemangel, Work Life Balance, Generation Z. Der Spiegel titelt, die Stimmung schwankt. Hoffnung hier, Entsetzen da. New Work gegen altes Denken. Deutschland arbeitet nicht flexibel genug. Was tun? 

  

Die Berliner Kampagnen-Agentur Ballhaus West hat die Vier-Tage-Woche bei vollem Lohnausgleich eingeführt. Vier Tagen Arbeit in der Woche pro Mensch, damit können offensichtlich auch anspruchsvolle Kunden gut bedient werden. Flexibilität und kluges Ressourcenmanagement von Management und Mitarbeitenden vorausgesetzt. Guter Move im harten Wettbewerb um gute Leute.

 

Die Kommunikationsbranche sieht sich gerne vorn, wenn es um neue Trends und innovative Entwicklungen geht. Auch beim Thema Arbeit? Nun ja, jedenfalls bietet sie ihren Leuten eine ganze Menge: Selbst- und Fremdausbeutung auf hohem Niveau, zunehmend erodierende Workaholic-Romantik, weitgehende Verhomeofficeung, aber auch viel formelle wie informelle Flexibilität und Selbständigkeit in der Arbeitsgestaltung. 

 

Zeitenwende in der Arbeitswelt.

 

Die Spiegel-Titelstory dieser Woche über die Generation Z und deren Einstellung zu Arbeit und Leben spiegelt eine bereits lang andauernde Entwicklung: Die Jungen wollen nicht bloß weniger, sie wollen vor allem anders arbeiten. Sie sind auch nicht weniger ehrgeizig. Doch dicke Dienstwagen oder Vier-Tage-Incentive-Trips auf die Malediven kompensieren schon lange keine 60 Stunden-Wochen mehr.

   

Work-Life-Balance ist fürchterlich.

 

Nicola Leibinger-Kammüller, findet den Begriff Work Life Balance „fürchterlich“. (Interview in der F.A.Z. vom 12.05.2023). Er trenne Arbeit und Leben, anstatt beides miteinander sinnvoll zu verbinden. Die erfolgreiche Chefin des Vorzeige-Familienunternehmens und marktführenden Metallverarbeiters Trumpf aus Süddeutschland personifiziert den schwäbisch-protestantischen Arbeitsethos in seiner modernen Form. 

 

Ihr Credo: Innovative, produktive und flexible Arbeit, die die Menschen glücklich und Deutschland international wettbewerbsfähig macht. Eine vielbejubelte Einstellung, die mehr und mehr unter Druck gerät. Nicht nur, weil smarte New Work-Vordenker:innen die Work-Life-Balance  durch das smartere Work-Life-Blending als Leitbegriff der neuen Arbeitswelt ersetzt haben. Sondern weil in vielen Teilen der Wirtschaft eine Arbeitsorganisation aus der Vergangenheit mit der Gegenwart nicht mehr Schritt hält. Von der Zukunft garnicht zu reden.

  

Workaholic mutiert zum Schimpfwort.

 

Die Jung-Unternehmerin, Ärztin und dreifache Mutter Michaela Hagemann aus Mainz ist überzeugt davon, dass wir als Gesellschaft grundlegend anders an das Thema Arbeit herangehen müssen. „Workaholic ist mittlerweile ja schon ein Schimpfwort.“ 

 

Ihr Unternehmen BOEP, das sie gemeinsam mit ihrem Bruder leitet, entwickelt und vertreibt mit 15 Mitarbeitenden ziemlich erfolgreich vegane Naturkosmetik. Flexible Arbeitsorganisation, die professionelle Anforderungen mit dem persönlichen „Well beeing“verbindet, stünden bei Bewerbungsgesprächen ganz oben. „Die Themen haben einen höheren Stellenwert als die Frage nach dem Gehalt.“ Auch für Motivation und Identifikation.

 

Einfach viel arbeiten hilft nicht mehr viel. 

 

Die aktuelle Debatte um die Vier-Tage-Woche drückt den Grad der Versteifung aus, unter der das Arbeitsmodell Deutschland leidet. Die mehr oder minder starre Festschreibung von Arbeitszeit ist Teil des Problems. Viel arbeiten hilft nicht mehr automatisch viel. Pauschal weniger arbeiten auch nicht. Zur produktiven Nutzung unserer Ressourcen und Kompetenzen braucht es intelligentere Modelle, die zu den Marktanforderungen und den individuellen Bedürfnissen passen.

 

Ein Pfälzer Bäcker als Revolutionär der Arbeit.

 

Ein Bäcker aus der Pfalz hat mit einem variablen Arbeitszeitmodell seine Backstube wieder zum attraktiven Arbeitsplatz gemacht. Bei Trumpf, dem Unternehmen von Nicola Leibinger-Kammüller, können sich Mitarbeitende einmal im Jahr ihr Arbeitszeitmodell wählen, zwischen minimum 15 und maximal 40 Stunden pro Woche und bleiben dem Unternehmen lange Zeit treu. Die Hotelgruppe 25Hours testet die Vier-Tage Woche. Für den freien Tag mehr hängen die Angestellten eine Stunde pro Arbeitstage dran. Das ist gelebte New Work, gänzlich unideologisch und im Rahmen geltender Arbeitsschutzregeln. 

 

Mehr solcher Beispiele zeigt der Film „New Work“ in der 3Sat-Sendereihe MAKRO. Noch bis Anfang September in der Mediathek zu sehen. Sehr empfehlenswert. 

 

Mehr Flexibilität im gesamten Arbeitsleben.

 

Die eigentliche Revolution sieht Zukunftsforscher Daniel Dettling in der lebensphasenbezogenen Organisation von Arbeit. Warum nicht auch schon als junger Mensch Arbeitszeit reduzieren oder Auszeiten einlegen? Wenn zum Beispiel die Familie besonders viel Zeit erfordert. Und warum dann nicht als älterer Mensch weiter die Arbeit tun, die man gerne macht und machen kann. Bedarf an erfahrenen Fachkräften wird es noch lange geben. 

 

Ein neues Erfolgsmodell für Arbeit.

 

Unsere Gesellschaft braucht ein neues Erfolgsmodell der Arbeit. Es wird flexibler, variabler sein müssen, für Arbeitgeber:innen wie für Arbeitnehmerinnen. Es muss kreative Varianten ermöglichen, die unterschiedlichen Bedarfen und Anforderungen gerecht werden. Inklusive rechtlicher Rahmensetzungen, die diejenigen schützt, die Schutz benötigen. Aber die Menschen nicht daran hindert, Lösungen für die Arbeit und den Wohlstand der Zukunft zu schaffen. 

 

 Leitbranche Kommunikation? Auf ihr Verbände!

 

Wäre die Kommunikationsbranche nicht eigentlich der ideale Wirtschaftsbereich, in dem innovative Formen von Arbeit und Arbeitsorganisation ausprobiert und gleich auch auf ihre Tauglichkeit getestet werden könnten? Ob es die Vier-Tage-Woche sein muss, ist dabei nicht ausgemacht. Auch das 100-80-100-Modell dürfte Chancen haben: 100% Lohn für 80 % Arbeitszeit und 100 % Leistung. Es ginge sicher noch viel mehr. 

 

Wäre das nicht mal ein Projekt für die Verbände der Kommunikationswirtschaft? Mit mutigen Unternehmen und Agenturen innovative Impulse setzen und sich als innovative Branche profilieren? Den Geschäften täte das mittel- und langfristig sicher gut. Die Attraktivität für junge, ehrgeizige und motivierte Talente wäre vermutlich der größte Gewinn dabei.

 

 

 

Links zum Thema

 

Der Spiegel, Ausgabe vom 28.05.23

https://www.spiegel.de/start/work-life-balance-warum-die-generation-z-anders-arbeiten-will-und-damit-jetzt-alle-ansteckt-a-2b4d84c1-f53f-4fca-ab51-6f4c1c8bbd39?context=issue 

 

„Work-Life-Balance finde ich fürchterlich“, F.A.Z. 12.05.2023. Interview mit Nicola Leibinger-Kammüller, Chefin des Familienunternehmens Trumpf

https://zeitung.faz.net/faz/unternehmen/2023-05-12/work-life-balance-finde-ich-fuerchterlich/892745.html

 

„Vier Tage-Woche, New Work und altes Denken“

YouTube-Kanal: HomeOffice für Politik & Kommunikation - zwei Generationen, zwei Perspektiven. Gast: Dr. Michaela Hagemann.

https://www.youtube.com/@homeofficefurpolitikundkom4109

 

New Work(Load)? Studie der Hans Boeckler-Stiftung
https://www.boeckler.de/de/faust-detail.htm?sync_id=HBS-008600

 

Zukunftsinstitut: Megatrend New Work

https://www.zukunftsinstitut.de/dossier/megatrend-new-work/
  

 

 

April 2023

Revolution, Freiheit, Feuer, KI. Alles unter Kontrolle.

Künstliche Intelligenz stellt vieles auf den Kopf. Den Kopf verlieren müssen wir deswegen noch lange nicht. Dabei hilft vor allem ein Text aus der F.A.Z. vom 24.04.2023 und der Deutsche PR-Tag in Hannover.

Für Iris Heilmann, Deutschland-Geschäftsführerin der PR-Agentur Palmer Hargreaves, ist KI eine Querschnittstechnologie „…vergleichbar mit der Dampfmaschine, mit Elektrizität und dem Internet.“ (PR-REPORT 02/23). Fürwahr ein mächtiger Satz. Was in weiten Teilen der Wirtschaft Euphorie auslöst, sorgt in Politik, Wissenschaft und Datenschutz für regelrechte Panikattacken - und den Ruf nach Regulierung und Kontrolle. 

 

Verwirrung auf hohem Niveau

 

Während Tech-Firmen, Beratungen, Agenturen und Unternehmen die aktuellen Angebote trotz offensichtlicher Fehlerhaftigkeit hektisch in ihr Dienstleistungsportfolio integrieren, rollt unter mächtigem Schnauben die Regulierungsdebatte an. Italiens Datenschutzbehörde hat ChatGPT kurzerhand einstweilig verboten. Elon Musk, Apple-Gründer Steven Wozniak und zahlreiche kritische Geister aus Forschung und Wissenschaft irrlichtern zwischen Moratorien und Firmengründungen. Und die chinesischen Führung fordert ihre Tech-Betriebe zum Aufbau wettbewerbsfähiger, aber bitteschön diktaturkonformer KI-Produkte auf. 

 

Globale, technologische Zeitenwende 

All diese Zeichen sprechen für eine technologische Zeitenwende. Innerhalb kürzester Zeit wird diese Technik - es ist und bleibt eine Technik - im globalen Maßstab in Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft für die meisten Menschen unkompliziert nutzbar. Zwar ist sie noch ziemlich fehlerhaft und ausgesprochen missbrauchsträchtig, wartet aber mit erstaunlich tauglichen, die menschlichen Fähigkeiten in bestimmten Bereichen weit übersteigenden Ergebnissen auf. 

 

Das Feuer neu entdecken

 

„Wenn man so will, entdeckt die Informationsgesellschaft das Feuer neu“. Auch diese Aussage kommt nicht gerade schmächtig daher. Sie stammt aus einem Text von Datenschützerin Marit Hansen und den Professoren Tobias Keber, Stephan Rixen und Rolf Schwartmann, veröffentlicht in der F.A.Z. vom 24.04.2023. Ich rate dringend dazu, diesen Text aufmerksam zu lesen und in seiner Bedeutung zu durchdringen. Er gehört zum intelligentesten, was die öffentliche Meinungsbildung zum Thema KI derzeit begleitet.  

 

Verbote bringen nichts

 

Autorin und Autoren des Textes sind sich einig: KI verbieten zu wollen ist kontraproduktiv. 

Deren wohltuend unaufgeregter und differenzierter Blick gilt den revolutionären Möglichkeiten und Chancen der KI genauso wie den offensichtlichen Risiken und der damit verknüpften Schutzbedürftigkeit der Nutzer:innen, die weit mehr als deren personenbezogenen Daten betrifft. Jede neue Technik sei auf Akzeptanz angewiesen, wenn sie „dauerhaft zu Wohlfahrtsgewinnen führen soll“.

 

Sie sprechen von einem „Regulierungsansatz mittlerer Reichweite“. Von der „Kreation einer KI-Superkontrollbehörde auf EU-Ebene“ halten sie nichts. Dagegen werfen sie kluge Ideen in die Debatte, zum Beispiel dezentrale Ansätze innerhalb der EU, intelligente Konzepte der Anonymisierung und Pseudonymisierung. Und Regulierungen, die nicht nur rechtliche, sondern auch lebensbereichsspezifische Anforderungen einbeziehen. Doch wie soll das gehen? Sie setzen zumindest wichtige Prämissen.

 

Die Technik bleibt in der Verantwortung derer, die sie einsetzen

 

„Dass ein tiefes neuronales Netz auch für seinen Anbieter nicht steuerbar sein mag, befreit diesen nicht von seiner Verantwortung. Im Gegenteil: Verantwortung heißt immer auch Verantwortung für die als möglich erkannten und in Kauf genommenen Folgen eigener Innovationskraft.“

 

Noch so ein Satz von betörender Schlichtheit. Heißt: Wer verantwortlich ist, haftet. So einfach könnte das sein. Also formulieren wir doch zunächst die zentralen Haftungsrisiken für die Anbieter:innen und warten nicht bis auf zum Scheitern verurteilte Versuche einer bis ins Detail zielenden, pseudofinalen Regulierung. Wer auf Marktmechanismen vertraut, sollte solchen Lösungen offenstehen. Nur bitte schnell, damit alle wissen woran sie sind.

Von Raubrittern und Datenregulierer:innen

 

Ganz nebenbei liefern die Autorin und ihre Autorenkollegen mit ihren Anregungen einen beispielhaften Impuls zum Umgang mit dem Spannungsverhältnis zwischen gesellschaftlicher Regulierung und unternehmerischer, wissenschaftlicher und kultureller, ja individueller Freiheit insgesamt. 

 

Möglicherweise zwingt uns die Auseinandersetzung mit der künstlichen Intelligenz und ihren Chancen und Risiken zu einer gänzlich neuen Magna Charta Digitalis. Für eine bessere, produktivere und gerechtere Beziehung zwischen Schutz und Chance, zwischen Individuum und Kollektiv. Der bisherige Wettlauf zwischen digitalen Raubrittern und gutmeinenden Datenregulierer:innen trägt zunehmend anachronistische, wenn nicht schon dysfunktionale Züge. Er wird den Anforderungen an die digitale Zeit immer weniger gerecht.  

 

Es braucht Freiheit, Revolutionäres zu gestalten

 

Eine Qualität dieses Textes steckt in der Verbindung zwischen konsequenter Chancenorientierung und der konzentrierten, gleichwohl offenen Beschäftigung mit den Regeln, die der Einsatz der neuen Technik braucht. 

 

Das Zitat zum Schluss spricht für sich: „Es ist die Pointe des Paradigmenwechsels, dass die Erweiterung menschlicher Handlungsmöglichkeiten durch KI an der menschlichen Autorschaft und damit an der Freiheit, das Revolutionäre zu gestalten, nichts ändert. Autorschaft impliziert damit auch Verantwortung. Sie zu übernehmen und nicht zu scheuen ist nötig, soll das Feuer der KI nicht wüten, sondern wärmen.“

 

Chapeau! Bitte lesen.

 

„ChatGPT zu verbieten bringt nichts“. Von Rolf Schwartmann, Marit Hansen, Tobias Keber, Stephan Rixen. Rubrik Unternehmen, F.A.Z. 24.04.2023
  

Deutscher PR-Tag 2023, 27. - 28. 04. in Hannover. Mit Veranstaltungen zum Thema KI, CommTech und digitale Kommunikation.


März 2023

Cool bleiben ist eine gesellschaftliche Aufgabe

Über Wutbürgerei als Wohlstandsphänomen, die radikale Kraft der praktischen Vernunft und Gelassenheit als Staatsräson.  

 

Neulich habe ich von einem Verlag eine Honorarabrechnung über einen geringen zweistelligen Betrag erhalten. Sie umfasste insgesamt sieben Seiten, allein drei davon dienten der Erläuterung der Honoraranteile am E-Book-Verkauf. Auf Seite sechs, der eigentlichen Abrechnung, stand am Ende: „Der Betrag ist unter dem Zahllimit“. Und in Versalien: „ENDE DER ZUSAMMENFASSUNG“. Unzweifelhaft das Ergebnis menschlicher Intelligenz. Hoffentlich sorgen solide programmierte KI-Systeme bald für eine menschengerechtere Abrechnungskommunikation.

 

Bin ich jetzt noch normaler „Rommauler “ (schwäbisch) oder schon Wutautor? Die Grenzen werden fließend.

 

Manuals, die keine/r liest

 

Der Arbeitsschutz-Beauftragte eines internationalen Großkonzerns will ein 60-seitiges Manual für die Anwendung einer Software zur Kontrolle der korrekten Einhaltung sämtlicher Arbeitsschutzvorschriften in dem Unternehmen an die Führungskräfte verschicken. Die Chefjuristin des Unternehmens stoppt das Projekt: „Ich werde dieses Manual nicht lesen und auch allen anderen Führungskräften empfehlen, es nicht zu tun“. Ist diese nun noch situatives Wut-Management oder, sehr frei nach Kant, schon die subversive Kraft der praktischen Vernunft? Eher Letzteres. Gerne mehr davon.

 

Scharmützeln als Breitensport

 

Laut Wikipedia wurde der Begriff des Wutbürgers durch den Essay des Journalisten Dirk Kurbjuweit im SPIEGEL vom 11. Oktober 2012 geprägt. Was damals auf die Debatte um Thilo Sarrazins umstrittene Thesen und die Protestierenden gegen das Bahnhofs-Projekt Stuttgart 21 bezogen war, ist mittlerweile zum gesellschaftlichen Phänomen geworden. Wo auch immer Eingriffe in die Unversehrtheit der eigenen Lebenswelt drohen, wird als ziviler Ungehorsam getarnte Renitenz zur gelebten, rundum sozialversicherten Teilzeit-Anarchie.

 

Zwar sei der Trend zur Radikalisierung der Corona-Jahre gestoppt, so das Ergebnis einer im Februar 2023 veröffentlichten Analyse des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung. Aber gilt das auch für das gefühlt zum Breitensport gewordene Scharmützeln gegen fast alles und jede/n, vor allem, aber gegen „die da oben“? 

„Denen geht´s zu gut“

 

In einer Kleinstadt im Süden Deutschlands wollten aufgebrachte Eltern den Erzieher:innen der städtischen Kitas unter wüsten Beschimpfungen die Erstellung der Dienstpläne aus den Händen nehmen und selbst Hand anlegen. Hintergrund: durch Personalmangel und Personalausfälle zum Alltag gewordenes Krisenmanagement bei den Betreuungszeiten.  

 

Eine kleine, radikale Minderheit der Eltern forderte noch dazu über den Rechtsweg den Träger der Kita auf, die Betreuung Ihrer Kinder ausschließlich durch ausgebildetes Fachpersonal sicherzustellen. Die nachmittägliche Betreuung durch erfahrene Helfer:innen der langjährig etablierten Elterninitiative lehnten sie ab. Es ging dabei um ganze zwei Stunden. Ist das noch elterliche Fürsorge oder schlicht wohlstandsbürgerliche Egozentrik? „Denen geht´s zu gut“ echauffierte sich eine Mutter, die zur Mehrheit der Eltern gehörte, die sich kooperativ mit den Verantwortlichen vor Ort um Lösungen für die Kinderbetreuung bemühten. 

 

Kreativer Widerstand

 

Richtig kreativ mutete dagegen die Protestaktion von Eltern gegen verkürzte Kita-Öffnungszeiten in einem anderen Bundesland an. Die haben ihre Kinder zur neu angesetzten Schließungszeit einfach nicht abgeholt. Das kennt man bisher nur von den IKEA-Kinderparadiesen. Müssen wir jetzt auch dort mit unabsehbaren Eskalationen und entsprechender Gegenwehr rechnen? “Wenn die Eltern von Cheyenne und Bernd-Ole ihre Kinder in den nächsten fünf Minuten nicht abholen, lassen wir sie laufen“. 

 

In welcher Welt leben wir denn?

 

Wenn unter Ausblendung der Kontexte nicht mehr unterschieden wird zwischen legitimer, vielfach notwendiger Kritik – inklusive kreativer Gegenwehr – und der maßlosen Durchsetzung eigener Interessen, dann schadet das der Gesellschaft. Dagegen sollte, dagegen muss sie sich wehren. 

 

In den letzten Jahrzehnten ist in Deutschland viel über den Sinn und Zweck einer demokratiefördernden Streitkultur gesprochen und geschrieben worden. Die Hoffnung, die bürgerlichen Subjekte könnten zu streitbaren und gleichzeitig vernunftgeleiteten Akteur:innen in überhitzten großen und kleinen gesellschaftlichen Klimazonen werden, hat sich dabei als intellektuelle Utopie herausgestellt. 

 

Lauter mentale Ich-AGs

 

Partialinteressen versus Gemeinsinn. Klingt abgedroschen, ist es aber nicht. Der Anspruch auf die Unversehrtheit des individuellen Lebensentwurfs scheint mit zunehmendem Wohlstand zum Maß aller Dinge zu werden. Ob gegen nachbarliche Fotovoltaikanlagen, Quartiersspielplätze, öffentliche Fahrradständer, Windräder und Stromtrassen sowieso, die Verlängerung von Straßenbahnlinien oder Geräuschemissionen durch kommunale Sommerfeste. Es wird gestritten, geklagt, gesägt, blockiert und protestiert, was das Zeug hält. 

 

Geradezu verwunderlich, dass in Deutschland noch kein Verein für Protestkultur existiert, mit angeschlossenem Portal zur Konfliktvermittlung. Ein Tinder für öffentlichen Aufruhr, das passende Konfliktlagen an attackewillige Freizeittupamaros vermittelt. Wutschnauben statt Parshippen. 

 

Gelassenheit als Staatsräson – und praktische Vernunft

Ich plädiere für ein Sondervermögen nächsten Bundeshaushalt zur Förderung gesellschaftlicher Gelassenheit. Die Mittel sollten dafür eingesetzt werden, praktische Vernunft als kollektive wie individuelle Interventionsdisziplin für jene Situationen zu entwickeln, in denen offensichtlicher Unsinn und egomane Maßlosigkeit den gesellschaftlichen Frieden bedrohen. 

 

Meine Frau, die Juristin, versucht mich zu beruhigen: „Reg dich ab. Ist doch alles halb so wild“. Mal sehen, ob sie auch dann noch so gelassen bleibt, wenn sich unsere Nachbarn in der gemeinsam genutzten Zufahrt festkleben. Sie bestehen nämlich darauf, dass dieser Bereich autofrei bleibt. 


Januar 2023

ChatGPT ist nicht intelligent. Und Mordor                       liegt vor Lützerath.

   

Schwer auszumachen, wo die Panik am größten ist: Bei den Journalist:innen, deren Texte alsbald gegen KI-erzeugte Varianten antreten müssen. In Schulen und Universitäten, wo KI-gestützte Besinnungsaufsätze und Doktorarbeiten dem Lehr- und Prüfpersonal die Benotungen noch schwerer machen werden als bisher. Oder in der Kommunikationsbranche, in der Texter:innen und Contentproduzent:innen um ihre Existenzberechtigung fürchten. 

 

Demokratisierung von Technologie

 

Ok, beginnen wir das Jahr nicht gleich defätistisch und nehmen uns den Rat von Siemens-Chef Roland Busch zu Herzen, „…erstmal loszulaufen, anstatt sich in den Keller zu reden und sich dann wieder herauszuarbeiten“. (F.A.Z. 21.02.2023). Im Jahr 2023 wird Künstliche Intelligenz in der Breite ankommen, sagt Gerhard Kürner, ehemaliger Kommunikationschef des österreichischen Stahlmultis voestalpine und seit einigen Jahren innovatives Mastermind der Agentur 506 aus Linz. Er geht noch weiter und spricht von einer „Demokratisierung von Technologie“. Weil wir mithilfe von ChatGPT und anderen KI-Systemen, also einfach mit „Text und Sprache High Tech bedienen können“. 

 

Nützlich, aber kaum intelligent

 

Kürner sieht KI als „menschenassistierende Technik“, die in vielen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bereichen helfen werde, einfache kognitive Aufgaben schneller und besser zu lösen. Und dabei am Ende weniger Arbeitsplätze koste, als vielmehr dazu beitrage, den Arbeitskräftemangel in qualifizierten Bereichen zu kompensieren. 

 

Der Aachener KI-Professor und Vorstandsvorsitzender des europäische KI-Netzwerks CAIRE bleibt da zurückhaltend. Er hält die gegenwärtigen Systeme für „begrenzt darin, Sachverhalte wirklich tiefgreifend zu verstehen“ (F.A.Z. 21.01.2023). Und auch nur im Ansatz von einer Vergleichbarkeit mit menschlicher Intelligenz zu sprechen, hält er schlicht „für völlig abwegig“.        

 

Weniger Aufregung, mehr Neugierde 
 

Anyway. Das Thema KI hat das Zeug zum branchenübergreifenden Top Thema des Jahres. Sorgen wir also für eine aufgeschlossene und neugierige Auseinandersetzung mit den Chancen und Risiken – und etwas weniger Aufgeregtheit, was sowohl Heilsverkündungen als auch Dystopieproduktion betrifft. 

 

Was das für die PR- und Kommunikationsbranche bedeuten kann, darüber werde ich beim Deutschen PR-Tag am 27. April in Hannover mit der ausgewiesenen Expertin für Künstliche Intelligenz und E-Commerce, Dr. Manuela Regneri vom House of House of Computing and Data Science der Universität Hamburg sprechen. Unser Thema: „Künstliche Intelligenz: Nutzen und Grenzen in der professionellen Kommunikation“.

 

Thunberg und Neubauer: Klima-Posing als Kampagnenroutine

 

Anderes Thema: Mit Blick auf den Braunkohletagebau Garzweiler Zwei und angesichts der unvermeidbaren Zerstörung des Meilers Lützerath hat Greta Thunberg das richtige Bild gewählt: Mordor. Sie ist ein Profi, was bildstarke Aussagen und Auftritte betrifft. Gut gelaunt ließ sie sich wenig später von zwei Polizisten im sichtbar locker angesetzten Demonstrant:innen-Entfernungsgriff einvernehmlich in die Kameras halten: Klima-Posing als Kampagnenroutine. Nicht weniger geübt der Trag mich weg-Auftritt ihrer Schwester im Geiste, Louisa Neubauer. Aus Campaigner-Sicht lautet das Urteil: Top. Aus politischer Perspektive: Nun ja, das wirkt schon ziemlich „abgelöscht“ wie eine Schweizer Kollegin bemerkte. Aber geht es hier eigentlich noch um Politik? Ähm, nicht wirklich. 

 

Moral Campaigning als Politikersatz

 

Die Klimaaktivist:innen, die sich im Hambi, im Danni, im Fechenheimer Wald und in Lützerath für die Rettung des Planeten einsetzen, argumentieren unversöhnlich, ultimativ, im finalen Retter:innen-Modus. Ohne Selbstzweifel an der Legitimität ihres Handelns schieben sie alle, die noch an den Sinn pragmatisch-politischer Entscheidungsbildung glauben über die ideologische Abbruchkante hinunter in den Schlund des Bösen. Dabei richten sich die wortführenden Aktivist:innen vor allem gegen die, die ihnen im konkreten Bemühen um den Wandel am nächsten stehen: die Grünen. 

 

Kommunikativ riskantes Spiel

 

Das ist nicht nur politisch ein gefährliches Spiel. Auch kommunikativ betrachtet gehen die deutschen Umweltaktivist:innen ein hohes Risiko ein, und zwar vor allem gegenüber der eigenen Bewegung. Die öffentlich immer wieder propagierte Kompromisslosigkeit führt absehbar zu individuellen und kollektiven Enttäuschungen. Warum? Weil die Distanz zwischen persönlich erlebbaren Fortschritten in Richtung besseres Klima und dem radikal an sich selbst und die Welt gestellten Anspruch auf den totalen Wandel jetzt und gleich mit jeder neuerlichen Inszenierung immer größer und irgendwann auch immer schmerzhafter wird. 

 

Extinction Rebellion schwenkt um

 

Damit können Kampagnenprofis wie Thunberg und Neubauer vielleicht umgehen. Für viele, die Ihnen mit ganzem Herzen folgen, gilt das nicht. Diesen Widerspruch, das hat die Geschichte der sozialen Bewegungen immer wieder gezeigt, halten die wenigsten lange aus. Ganz abgesehen von der Belastung durch die breite gesellschaftliche Ablehnung, die mit zunehmender Radikalität der Inszenierungen ebenfalls an Vehemenz zunimmt. 

 

Die in Großbritannien entstandenen Vorbilder von Extinction Rebellion haben das erkannt. Ihr neuer Kampagnenansatz geht wesentlich mehr in Richtung gesellschaftliche Akzeptanz. Fraglich, wie lange die deutschen Klima-Campaigner:innen noch an ihren moral- und konfrontationsgesteuerten Inszenierungen festkleben.   

 


November / Dezember 2022

Kein Jahr zum Vergessen

Was für ein Anfang, was für ein Ende. Zwei regionale Ereignisse mit globalen Auswirkungen setzen die Eckpfosten. Im Februar der Überfall Russlands auf die Ukraine. Wie lange wird der Kampf noch dauern? Fest steht jetzt schon: Es gibt nur Verlierer:innen. Von wenigen politischen und kommerziellen Profiteur:innen abgesehen. Anders beim ultimativen Jahresendereignis: dem Finale um die Fußball-WM in Katar. Sieger, Verlierer. Klare Verhältnisse. Trotz berechtigter wie fragwürdiger Kritik an den Veranstaltern einmal mehr Ausdruck der Idee vom sportlichen Kampf, der am Ende mehr für die gegenseitige Verständigung leistet als so manche Uno-Mission.  

 

Welcome back Propaganda 

 

Der Krieg Putins und seiner Klepto-Demokratur hat zu einer Revitalisierung der Propaganda als strategischer Waffe auf einem neuen, weil digitalen Niveau geführt. Die Instrumente zur Konstruktion alternativer Realitäten heißen Fake News, Propaganda, Zensur. Kommunikative Risikokriterien, die nun auch Einzug in die Resilienz-Strategien von Unternehmen und privaten wie öffentlichen Institutionen halten. 

 

Kommunikative Disruption 

 

Die aktuellen Krisen haben zur Disruption der politischen Kommunikation insgesamt geführt. Begonnen hat es schon in der ersten Pandemiephase, als Klartext sprechende Virolog:innen die gewohnte politische Krisen-Phraseologie als das entblößt haben, was sie ist. In diesem Jahr hat Wirtschaftsminister Robert Habeck einen neuen Kommunikationsstil eingeführt, der Standards weit über die politische Sphäre hinaus setzt. Was hat er getan? Er hat einfach aufgehört so zu tun, als gäbe es für alle Probleme und Unwägbarkeiten schon Lösungen. Stattdessen hat er schlicht darüber gesprochen hat, wie an den Lösungen gearbeitet wird. 

 

Er hat den Leuten die Wahrheit zugemutet. Und ihnen gleichzeitig vermittelt, dass wir weder hilf- noch machtlos sind, auch außergewöhnliche Situationen zu bewältigen. Eine alte Regel aus der Krisenkommunikation sagt: Wenn du zum Grund der Krise selbst nichts Gutes sagen kannst oder willst, dann sprich umso mehr davon, wie du gut du sie managst.

  

Destruktiver Journalismus

 

Bis tief in die konservative Medienwelt hinein reichten die Elogen auf den Habeck´schen Kommunikationsstil. Nur wenige Wochen später machen die gleichen Medien aus Robert, dem Helden, Habeck, den Versager. Man hätte die Texte und Kommentare schon vorab formulieren können. So erwartbar war das, was in großer Übereinstimmung geschrieben und kommentiert wurde, als die Gaslieferungen doch noch auf sich warten ließen, die Krise Fehler im Politikmanagement provozierte und die weit streuenden Geschütze der Zuwendungsartillerie nicht vor alle vor Härten verschonte. 

 

Anstatt klar und deutlich zu benennen, wo echte Härten entstehen und wo es sich schlicht um Wohlstandsreflexe einer in weiten Teilen saturierten Gesellschaft handelt, gefiel sich – ich bin jetzt verallgemeinernd ungerecht – die Mehrzahl der Kommentator:innen in einer dem deutschen Journalismus fest verbundenen Grundhaltung, die kritische Distanz und investigative Professionalität mit destruktiver Routine verwechselt.

 

Lichtblicke, auch das

 

Am Anfang war der Gau: Ein Fehler in der Übermittlung der verfügbaren Medizinstudienplätze an der Goethe-Universität in Frankfurt führte zu über 250 Zusagen für Studienplätze, die es gar nicht gab. Die Zusagen mussten wieder zurückgenommen werden. Die Folge: Entsetzte junge Menschen, mit zum Teil bereits gekündigten Wohn- und Arbeitsverhältnissen. Wildgewordene Eltern, krawallige Anwält:innen und natürlich die Medien. Die Verantwortlichen blieben ruhig, bekannten sich zu ihrer Verantwortung, gingen ins Gespräch mit den Betroffenen und schafften es, in Kooperation mit dem Land und anderen Universitäten, nahezu allen Bewerber:innen einen Medizinstudienplatz zu beschaffen. Die Kommunikation fügte unaufgeregt zusammen, was vermittelt werden musste: Das ehrliche Bemühen der Handelnden um echte Lösungen. Als sich diese manifestierten, wirkte die Entschuldigung des Universitätspräsidenten für den Vorfall umso glaubwürdiger. Chapeau!

 

Doppelte Niederlage 

 

Der Flop des Jahres: Die One-Love-Aktion des DFB und seiner ministerialen Entourage. Für die Nachbereitung der politischen Blamage empfehle ich wärmstens das Interview mit Sylvia Schenk, Richterin, ehemalige Leichtathletin, Frankfurter Sportdezernentin und Transparency-Vorständin zum Thema Katar vom 19.12.22 in der F.A.Z. 

 

Zum kommunikativen Desaster wiederum führte eine fatale Allianz aus holpriger Gutmenschelei, amateurhafter kommunikativer Konfliktführung und fehlendem Siegeswillen. Warum so hart? Weil von vorne herein klar war, mit welchem Gegner man es zu tun hatte: Bekanntermaßen eine Truppe zynischer, mit allen der Selbsterhaltung dienenden Wassern gewaschenen Fifa-Funktionar:innen. Für die zählte nur der Sieg. Für die Love Parade des DFB reichte die Geste. Damit gewinnst du weder ein Fußballspiel noch eine PR-Schlacht. Selbst ethisch korrekte Unentschieden taugen wenig in solch einer Situation. 

 

In diesem Sinne. Nehmen wir uns also ein Jahr vor, das zeigt, wie Krisen beendet und Katastrophen bewältigt werden. Wie freiheitliche, demokratische und tolerante Kräfte daraus produktive Energie entwickeln und dem Klimawandel – gleich in mehrfacher Hinsicht – die richtige Richtung geben. Wie üblich spielt gute Kommunikation hierbei eine zentrale Rolle.

Interessante Links

 

"WM der großen Missverständnisse" - Marokko gegen Frankreich in einer Frankfurter Shishabar, F.A.Z. 17. 12. 2022

 

"Lächerlich, diese Aktion mit der One-Love-Binde" - Interview mit Sylvia Schenk, F.A.Z. 19.12.2022 

 

 


Oktober 2022

Künstliche Intelligenz in der PR. Der große Bluff?

Künstliche Intelligenz verändert unsere Welt - und natürlich auch die professionelle Kommunikation. Die Branche wäre nicht die Branche, würden Agenturen und Dienstleister bei der Beschreibung ihrer KI-gestützten Angebote nicht das ganz große Texter-Kino aufführen. 

 

„Finden Sie die relevantesten und aussagekräftigsten Insights mithilfe fortschrittlichster, KI-gestützter Sentimentanalyse“ bewirbt ein Anbieter seine „Social Intelligence-Produkte“. Und mit „KI-basierter Datenanalyse machen Millionen von Zusammenhängen und versteckte thematische Verbindungen plötzlich Sinn…“. Ganz plötzlich? 

 

Intelligenzfreier PR-Scheiß 

 

Demnach mäandern wir ohne solche Tools geradezu orientierungslos durch die Meinungs- und Themenwelten unserer Zielgruppen und Stakeholder. Kümmerlich ausgestattet nur mit der bloßen professionellen Erfahrung, verstehen wir so logischerweise weder angesagte Trends noch irgendwelche Consumer Insight und kreieren auch keinen „überzeugenden Content“. 

 

So richtig dramatisch wird es beim Blick in die Zukunft. Stichwort: Predictive Analytics. Man lese und staune: „Im Wesentlichen handelt es sich dabei um eine Kombination aus künstlicher Intelligenz und fortgeschrittenen Techniken im Bereich Data Science, die auf Datensätze – historisch oder in Echtzeit – angewandt werden, um zukünftige Ergebnisse vorherzusagen. Ein Blick in die Zukunft!“. Warum hat mir das noch niemand gesagt? 

 

Glaubwürdig geht anders

 

Vor allem, dass „unsere KI“ Daten durchsuchen kann, die “mit bloßem Auge nicht zu erkennen sind.“ Sie könne doch glatt „die Bewegungen der wichtigsten KPIs wie Resultate und Engagement für bis zu 90 Tage im voraus vorhersagen“. Da bleibt kein Auge trocken. Sollte das beschriebene „Forecast Feature“ auch noch ein bisschen Rechenleistung für die Rechtschreibprüfung übrighaben, wer wollte da nicht zugreifen? 

 

Das ist kein Einzelfall. Eine Agentur verspricht „KI-basierten Analysen“ in über 350 Millionen Quellen. Eine andere kombiniert „menschliche Intelligenz und KI-basierte Technologien“ zur „Augmented Intelligence“. Und ein internationaler Dienstleister stellt sogar in Aussicht, dass mittels KI-gestützter Analyse von Social Media Posts „Krisensituationen gar nicht erst eintreten und somit gar verhindert werden können“. Oha! ich kann also etwas verhindern, was gar nicht erst eintritt. Bullshit Bingo auf höchstem Niveau. 

 

Schnitt. Schauen wir doch mal arte

 

Was ist und was kann künstliche Intelligenz? Überhaupt und mal so ganz grundsätzlich? Es lohnt der Blick zu einer Ikone des viel gescholtenen, öffentlich-rechtlichen Journalismus: zu arte. Noch bis Mitte Dezember stehen in der arte-Mediathek zwei Sendungen über Künstliche Intelligenz zum Abruf. Wer ernsthaft mitreden will, sollte sich beide Sendungen anschauen. 

 

„KI im Test: Mensch vs. Maschine“, 55 Min. Verfügbar bis 13.12.2022. Nächster Termin: 23.10.22, 07:25 Uhr 

„Künstliche Intelligenz. Haben Maschinen Gefühle?“, 52 Min. Verfügbar bis 20.12.2022. Nächste Termin: 22.10.22, 21:45 Uhr

 

Die zentrale Botschaft lautet: Künstliche Intelligenz kann schon faszinierend viel, entwickelt sich rasant und stiftet echten Nutzen. Allerdings richten ihre Limitierungen in praktischen Anwendungen auch echten Schaden an. Das sagen zum Beispiel Erfahrungen aus Bewerbungsverfahren oder beim KI-geleiteten Scoring vom Zuschussberechtigungen im Gesundheitswesen. 

 

Die arte-Sendungen leisten eine intelligente wie unideologische Entmystifizierung der KI. Beispielhaft dafür steht die Aussage von Luke Stark, Informations- und Medienwissenschaftler an der Universität of Western Ohio: „Ich halte es für ein Hirngespinst, dass KI-Systeme in absehbarer Zeit die gleiche Intelligenz wie Menschen haben. (…) Ich mache mir Sorgen über die bestehenden KI-Systeme (…), die bestehenden Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten verstärken“.
 

Lernen wir was daraus? 

 

Die intelligente Verarbeitung großer Datenmengen und Informationen bietet faszinierende Vorteile und Potenziale für professionelle Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit. Selbstlernende Datensysteme, neuronale Netz etc. helfen uns, Entwicklungen und Veränderungen z.B. von Meinungen, Einstellungen und Verhaltensweisen besser und anschaulicher zu verarbeiten und zu verstehen. Sie bilden die Grundlagen, um denkbare - oder auch nicht denkbare - Zukunftsszenarien zu entwickeln und in Realtime-Simulationen in unterschiedlichsten Varianten zu antizipieren. Was unsere Fähigkeit für den Umgang mit der Zukunft substanziell verbessert. Gleichwohl: Voraussagen tun diese Predictive Analytics rein gar nichts. Und selbst mit künstlicher Intelligenz hat das nicht immer was zu tun.  

 

Erstmal verbal abrüsten – der Glaubwürdigkeit wegen

 

Das heißt: Solche Systeme helfen, die professionelle Kommunikation besser zu machen. Aber wir können und dürfen uns bei der Vorbereitung auf aktuelle und zukünftige Herausforderungen nicht ausschließlich auf sie verlassen. Denn ihr Bild der Zukunft setzt sich ausschließlich aus dem, noch dazu ausgesprochen eingeschränkten Blick in die Vergangenheit zusammen. Also ist zumindest sprachliche Abrüstung angesagt - sonst machen wir uns als Branche völlig lächerlich.


September 2022

documenta-Krise, Kulturschutz-Taliban, Woke-Buster

Das prmagazin hat gefragt, was ich von der Krisenkommunikation der documenta-Verantwortlichen halte. Meine Antwort: Nichts. Der Umgang mit dem Thema Antisemitismus bei der documenta fifteen gehört als negatives Lehrbeispiel in jede Ausbildung für professionelle Kommunikator:innen.

 

Wirksame Krisenkommunikation braucht eine klare Position zum krisenverursachenden Thema. Die hätte hier nur lauten können: Antisemitismus bleibt auch in der Kunst, was er ist:  Antisemitismus. Offensichtlich hat von den documenta-Verantwortlichen niemand das Konfliktpotenzial antizipiert, das in einigen, von dem indonesischen Künstlerkollektiv ruangrupa ausgewählten  Arbeiten steckte. Entsprechende Signale im Vorfeld der Ausstellung hat es offensichtlich genügend gegeben. 

 

Antisemitismus einfach laufen lassen ist das Gegenteil von Freiheit

 

Dem sich öffentlich zuspitzenden Konflikt wurde schnell der Mantel der Freiheit der Kunst umgehängt. Was den Eindruck verstärkte, es gehe vor allem darum, das eigene Versagen beim inhaltlichen wie kommunikativen Umgang mit dem Sachverhalt zu verdecken. Verhalten und Argumentation der documenta-Leitung wurden so zum Teil des Skandals. Kriseninhalt und Krisenkommunikation waren nicht mehr zu trennen, befeuerten sich gegenseitig. Das hat nicht nur die documenta beschädigt, auch die Freiheit.

 

Eine besondere Pointe setzte der neu berufene Geschäftsführer Alexander Fahrenholt mit seiner sinngemäßen Aussage, das Thema Antisemitismus sei zu groß, um es noch während der laufenden documenta aufzugreifen. Ich finde, wem der Umgang mit Antisemitismus zu groß ist, hat auf einem solchen Posten nichts verloren. 

 

Ein Vergleich der Themen verbietet sich, aber stellen wir uns nur mal vor, die Geschäftsführerin des Verbandes der Automobilindustrie VDA würde angesichts massiver Proteste von Klimaaktivisten gegen die Automobilindustrie sagen, das Thema Klimawandel sei zu groß, um auf einer laufenden Internationalen Automobilausstellung (IAA) behandelt zu werden. Der Teufel wäre los, und sie nicht mehr lange auf ihrem Posten. 

 

Das vollständige Interview ist im prmagazin 09/2022 erschienen. Hier Ausschnitte auf prmagazin.de und hartwinmoehrle.com.

 

 

Hilfe: Rettet den deutschen Winnetou

 

Womit wir bei einem anderen, nicht minder spannenden Krisenthema wären: dem vermeintlichen und tatsächlichen Shitstorm zum jungen "Häuptling Winnetou".  

 

Wir erinnern uns: Der Ravensburger Verlag hatte die Veröffentlichung von zwei Begleit-Büchern zu dem Film „Der Junge Häuptling Winnetou“ gestoppt. Der Grund: Offensichtlich wurde der Verlag vor Veröffentlichung wegen der Verbreitung kolonialistischer und rassistischer Klischees kritisiert. Es wurde zur Vorlage für eine BILD-Kampagne. Von einem „zivilisatorischen Versagen“ und der schieren Unterwerfung der Mehrheit unter eine radikale Minderheit fabulierte Neu-BILD-Kolumnist und ehemalige Mediamarkt-Werbe-Figur, Rechtsanwalt Joachim Steinhöfel: „Da schreien 200 Leute auf Twitter oder Instagram und schon kapituliert man.“ 

 

Aktivistische Kulturschutz-Taliban gegen mediale Woke-Buster

 

In einem Punkt hat er recht. Denn den eigentlichen Shitstorm hat nicht eine handvoll  Aktivist:innen ausgelöst. Wie die Content-Marketing-Agentur Scompler in einer umfassenden Mediendatenanalyse veranschaulichen konnte, war es vor allem die BILD selbst, die eine Rettungskampagne für den deutschen Winnetou lostrat und mit allem befeuerte, was an Ressentiment gegen rassismuskritische Stimmen aufzubieten war. 

 

„Es gab also keinen woken, sondern einen anti-woken Shitstorm“. schrieb der Berliner Kurier. Der traf allerdings auf eine empörungswillige, von rechts bis weit in die demokratische Mitte reichende Öffentlichkeit – und auf zahlreiche Medien, die ohne vertiefende Recherche auf die „Scheindebatte“ eingestiegen sind. Was die Autoren der Analyse schlicht als „Medienversagen“ bezeichneten. Da ist was dran. 

 

Nur Ressentiment-Journalismus oder schon Fake-Kampagne?

 

Ist das noch bloßer Ressentiment-Journalismus oder schon gezielte Desinformation? Erkennbar sucht die BILD-Zeitung nach Woke-Bustern wie Steinhöfel. Die sollen helfen, ihr Profil als die eigentliche Stimme des Volks neu anzu-„reicheln“. Die Winnetou-Kampagne ist ein Beispiel dafür, wie mediale und politische Populisten die Cancel-Culture-Debatte zur öffentlichen Mobilmachung gegen alles nutzen, was irgendwie nach woke, links-grün, progressiv, LGBTQ, gender-feministisch, öffentlich-rechtlich – hab ich was vergessen? – auch nur riecht. Allerdings machen es ihnen Kulturschutz-Talibans und Alles oder nichts-Fundamentalist:innen auch denkbar einfach, die Volksseele in Wallung zu bringen.   

 

Immer gefährlicher: professionelle Desinformation

 

Die Grenzen zwischen legitimer Meinungskommunikation und gezielter Desinformation als Mittel der Agitation, Destruktion und gezielten Schädigung verschwimmen zunehmend. Nicht nur Unternehmen wie Ravensburger bekommen das zu spüren. Fake News und gezielte Desinformationskampagnen werden insgesamt zur Gefahr für Wirtschaft und öffentliche Institutionen. Deshalb gehört das Thema Desinformation definitiv in das Szenario-Portfolio jedes Crisis-Readiness-Systems. Dem Verlag hätte es wahrscheinlich einigen Ärger erspart.

  

 

Interessante Links

 

Scompler: Medienanalyse  Winnetou-Debatten

https://scompler.com/winnetou/

 

BILD-Kolumnist Steinhöfel in BILD-TV 

https://www.youtube.com/watch?v=mE2LewOINmE

 

HeuteShow mit Oliver Welke
https://www.youtube.com/watch?v=B8PahoBvHJ8

 


Deutschlandfunk: Kommentar zur Kommunikation von Ravensburger 
https://www.deutschlandfunk.de/winnetou-debatte-ravensburger-100.html

Desinformationskampagnen als Gefahr für die Wirtschaft 
https://prevency.com/de/desinformationskampagnen-als-gefahr-fuer-die-wirtschaft/

https://prevency.com/de/digitale-desinformation-bekaempfen-tipps-zum-umgang-mit-fake-news-co/


August 2022

Die Kommunikation der Zukunft ist neuronal - vom Newsroom zum Metaverse und Corporate Avatars.

„Kollege Roboter“ betitelte der PR-Report in Ausgabe 4/22 einen Text über die zunehmende Zahl von Anbietern KI-erstellter Texte. Deren Qualität werde immer weniger unterscheidbar von menschlich gedengelten Produktbeschreibungen, Slogans, Newslettern, Blog-Artikel usw. Von künstlicher Intelligenz verfasste Texte würden „schneller zum Alltag gehören (…) als selbstfahrende Autos auf unseren Straßen“, ist sich der Autor, selbst Mitinhaber einer Kommunikationsagentur sicher. 

 

Vermutlich hat er recht. Reichlich futuralen Anbieterversprechungen wie „Wirkungsvorhersage des Textes“ sollten wir zwar mit gesunder analoger Skepsis begegnen, die digitale Disruption der professionellen Kommunikation wird beim „Data Driven Copywriting“ allerdings nicht halt machen. 

 

Predective Analytics sagen nichts voraus.

 

Das Stichwort Predective Analytics geistert schon ein paar Jahre durch die Szene. Die Erfassung und Auswertung von großen Mengen öffentlich verfügbarer Daten und Informationen mithilfe neuronaler Systeme verändert das klassische Monitoring nachhaltig. Medienresonanzkurven waren gestern, heute blicken wir auf Muster, Cluster, Profile, Verdichtungen und Verästelungen – auf die Synapsen und Nervenstränge der Kommunikationsgesellschaft. Wir erhalten visuell aussagekräftige Darstellungen von Meinungsbildern und Thementrends, von Akteur:innen und deren Vernetzungsprofilen. Wenn es sein muss in Echtzeit. Technisch machbar ist das. 

 

Klar ist jedoch auch: Predective Analytics-Systeme sagen rein gar nichts voraus. Aber sie verbessern die Qualität und Variabilität der prospektiven Szenariobildung, etwa beim Themen- und Issues-Management, in der Markenentwicklung oder bei umfassenden Akzeptanzfragen. Die gute Nachricht: Entscheidungen müssen wir auf absehbare Zeit immer noch selbst treffen. Alles andere ist Marketinggeklingel.

 

Was kommt nach dem Newsroom?

 

Denken wir weiter. Ein Szenario: Der Newsroom als Inkarnation für disziplinen-, themen-, abteilungs- und länderübergreifender Kommunikation erlebt im wahrsten Sinne des Wortes eine Metamorphose: aus der Corporate Communication wird Corporate MetaCom – das kommunikative Metaverse. Das neue Kommunikationsmodell heißt: neuronale Kommunikation. Alles ist mit allem, was Sinn macht vernetzt, nach innen und nach außen. Die kommunikative Gewaltenteilung wird durch differenzierte Berechtigungen geregelt. Zugriff auf die Corporate Public Library – sie hält alle wichtigen, aktuellen und öffentlichkeitsrelevanten Daten zum Unternehmen bereit – haben neben Management und Mitarbeiter:innen auch berechtigte Journalist:innen, Politiker:innen und relevante Stakeholder. Der Aufwand für die individuelle Beantwortung immer wieder gleichen Fragen dürfte sich dramatisch reduzieren. Kollateraler Zusatznutzen: die nachhaltige Pflege eines jederzeit aktuellen, kommunikativen Bedarfs- und Anforderungsprofils für die jeweilige Organisation. Doch es kommt noch besser.

 

Avatare für die Öffentlichkeitsarbeit? Warum nicht.  

 

Journalist:innen kennen das: Die Sprecherin, der Sprecher des Unternehmens ist gerade nicht verfügbar. Kein Problem. Im kommunikativen Metaverse verfügen ÖA-Verantwortliche über einen oder mehrere Avatare. Die stehen für individuelle Anfragen rund um die Uhr zur Verfügung. Vor allem: Die können schneller und mehr valide, noch dazu anschaulich aufbereitete Informationen liefern als das humane Original jemals könnte. Schließlich greifen sie just in time auf alle Infos und Materialien zu, die im organisationseigenen Public Information Management System (PIMS) zur öffentlichen Kommunikation freigegeben sind. 

 

Rapid Response mit dem Digital War Room.

 

Besonders nützlich erweisen sich derartigen Systeme in krisenhaften Situationen mit multiplen und zeitkritischen Informationsbedarfen. Mit dem PIMS vernetzt ist der Digital War Room (DWR), ein auf Rapid Response - Kommunikation spezialisiertes KI-gestütztes, Informationsmanagement-System. Innerhalb weniger Minuten werden Anfragen auf Beantwortbarkeit, Risikofaktoren (operative und wirtschaftliche Auswirkungen, Reputation, Strafbarkeit …) Dringlichkeit etc. einem Pre-Check unterzogen. Das System hilft auch bei der Erstellung eigener FAQs, dem Füttern der Hotline-Bots und bei der Konfiguration von Risikoszenarien für die Ad hoc-Simulation im virtuellen Krisensimulator.  

 

Im menschlich besetzten Krisenstab „sitzt“ selbstverständlich auch ein DWR-Avatar und erläutert völlig unaufgeregt die Grundlagen seiner/ihrer Empfehlungen. Am Ende entscheiden natürlich die Menschen, was, wann von wem kommuniziert und in welche Kanäle und Netzwerke ausgespielt wird. 

 

Neue Kommunikationstypen in virtuellen Teams.

 

Die MetaCom-Abteilung hat nur wenige Mitarbeiter:innen - und gleichzeitig ganz viele. Ein Kernteam steuert virtuelle Kommunikationsteams. Die werden je nach kommunikativem und fachlichem Bedarf aus Kolleg:innen unterschiedlicher Bereiche und Märkte temporär gebildet. Wer dazu gehört, hat ein Auswahl- und Qualifizierungsverfahren durchlaufen, in dem neben fachlichen vor allem kommunikativen Fähigkeiten gecheckt wurden. Der Kommunikationsstil: ausdrucksstark, anschaulich, direkt, souverän, kritisch, glaubwürdig. Die neuen Kommunikationstypen gibt es schon, in jeder Organisation. Es gilt sie nur finden. 

  

Das größte Problem der Zukunft ist die Gegenwart.

 

Professionelle Kommunikation in Unternehmen, Verwaltungen, Institutionen, Verbänden etc., wird vernetzter, dezentraler und agiler werden. Sicher, die iRobots der PR müssen noch gebaut werden. Aufbau und Pflege von leistungsfähigen, neuronalen und KI-gestützten Datensystemen ist nicht gerade trivial, aber machbar.

 

Gleichwohl, ich höre die Entsetzensschreie aus Redaktionen und PR-Abteilungen: „dermenschlichekontaktdieauthentizitätfehltkeindatenschutzmiteinemroboterredeichnicht…“

Ok, daran muss man arbeiten. Doch Menschen von Arbeit zu entlasten, die nicht zwingend Menschen machen müssen oder die etwa ein neuronales System einfach besser kann. Das sollten wir uns leisten. Damit wir uns auf das konzentrieren können, was KI-Systeme noch lange nicht annährend so gut können werden wie wir: mit professioneller Intuition das Richtige tun. 

 

Das größte Problem der Zukunft liegt freilich in der Gegenwart. Was mancherorts als vernetzte Organisation angepriesen wird, entpuppt sich nicht selten als digital getarntes Old-School-Haus. Wo Hierarchien, Kompetenzen und Prozesse weiterhin auf traditionellen Management- und Entscheidungsmustern basieren, wird aus keinem einzigen. so genannten Social Intranet eine auch nur annährend agile, fluide und leistungsfähige New Work-Struktur.  

 

Kommunikator:innen könnten vorangehen.

 

Warum gehen die Profi-Kommunikator:innen nicht voran? Tun sich zusammen mit innovativ denkenden Soft- und Hardware-Techies und schaffen zunächst mal kleine Simulationsprojekte für die Kommunikation der Zukunft. Die interdisziplinären und bereichsübergreifenden Kompetenzen hätten sie. Natürlich braucht es am Ende auch ein Mandat. Doch das gibt es nicht ohne Vorlage: um Entscheider:innen zu überzeugen, vielleicht sogar zu faszinieren. Go ahead!

 

   

Hinweis:

Das prmagazin veröffentlich in seiner Septemberausgabe (Erscheinungsdatum 07.09.2022) einen Artikel über den aktuellen Stand zum Thema virtuelle Krisensimulationen. 

 

Interessante Links: 

Maschinelles Texten zum selbst probieren: „Talk to a transformer“

Data-Driven-PR:

https://de.slideshare.net/jhoewner/cognitive-pr-datengetriebene-kommunikation-und-ki-in-der-pr-handlungsfelder-und-ansatzpunkte 

https://www.newsaktuell.de/blog/top-10-woran-data-analytics-in-der-pr-am-haeufigsten-scheitert/

Krisensimulation:
https://prevency.com/de/


Juli 2022

"Nichts von mir im Netz stimmt" - über digitale Selbstverteidigung im Netz

Digitale Selbstverteidigung. Geht das?

 

Echt jetzt, du verrätst dein richtiges Alter, wenn eine Website dich dazu auffordert? Und deine private Mailadresse auch? Womöglich noch das richtige Geschlecht? Bass erstaunt schaut mich meine junge Gesprächspartnerin an: „Ey Alter“. Eigentlich meint sie „alter weißer Mann“. Dann gibt sie mir Einblick in ihre Art der digitalen Anarchie: „Nichts von mir im Netz stimmt.“  

 

Kreativer Widerstand gegen die digitalen Raubritter

 

So weit bin ich noch nicht. Doch mit Google suche ich schon lange nur noch im Ausnahmefall. Es gibt gute, diskrete Alternativen. Einkaufen bei Amazon? Nur, wenn es nicht anders geht. Onlineshopping generell läuft komplett über eigens dafür generierte Mail-Adressen. Apple macht´s komfortabel möglich. Zudem verhindern die Einstellungen in meinem digitalen Devices soweit eben machbar ungefragtes Tracking. Nur bei Facebook bin ich noch „ich“, der Familie in Übersee wegen. Nützt das was? Nach dem Besuch mehrerer Seiten von Kameraherstellern werde ich immer noch wochenlang mit „personalisierter“ Kamerawerbung bombardiert. Obwohl ich inzwischen eine gekauft habe. Ist das smart? Nein, das ist dumm.  

 

Ein bisschen persönlicher Widerstand gegen die digitale Raubritterei ist möglich. Doch trotz DSGVO, Anti-Trust-Regularien und wohlgetexteten „Privacy“-Versprechen der großen und kleinen Trader und Anbieter: Vom 1984 eingeführten Grundrecht der informationellen Selbstbestimmung sind wir weit entfernt. Ganz zu schweigen von der im Oktober 2019 von der Datenethikkommission (DEK) in Spiel gebrachten „digitalen Selbstbestimmung“. 

 

Wir sind vor allem auch selbst schuld

 

Aber bleiben wir bei der ganzen Wahrheit: Die User selbst sind es ja, die bedenkenlos private Daten und individuelle Profile ins Netz schleudern und damit die Geschäftsmodelle von Meta, Google, Amazon und seit einiger Zeit auch von chinesischen Konzernen und Marken wie Tencent und TikTok am Laufen halten. 

 

Natürlich bekommen wir Gegenleistungen dafür, aber wir zahlen dafür einen Preis. Der „autonome Konsument“, wie ihn die Werbeindustrie schon in den 90er-Jahren ausgerufen hat, ist im Big Data-Zeitalter unter die digitalen Räder geraten. Einen „Fair Deal“ zwischen Nutzer:innen und Anbieter:innen gibt es nicht. Ich halte das für ein Problem, nicht nur für die Autonomie des Individuums, sondern auch für die demokratische Gesellschaft als Ganze.

 

Mehr Kontrolle darüber, wann, wie und warum wir unsere Daten teilen

 

In seinem 2017 erschienenen Buch „Data for the People“ spricht der deutschen Physiker  Andreas Weigend von „Rohdaten“, die von „Datenraffinerien“ zwecks Veredelung zu neuen Produkten und Dienstleistungen verarbeitet werden. Weigend hat für Amazon und Facebook als Berater gearbeitet, kennt deren Geschäftsmodelle. Er steht auf dem Standpunkt, dass wir „ …statt Bezahlung für unsere Rohdaten zu verlangen, wirkungsvollere Möglichkeiten einfordern sollten, um die Kontrolle darüber zu erlangen, wie, wann und warum wir unsere Daten teilen, wofür diese verwendet werden dürfen und was wir als Ergebnis dabei herausgekommen.“

 

Auf den ersten Blick klingt das nach digitaler Räterepublik und Metaverse-Sozialismus. Weit gefehlt. Weigend sagt ganz klar: Nur echte, valide Daten über Interessen, Vorlieben und Verhaltensweisen ermöglichen den Datenraffinerien sinnvolle und nutzenstiftende Erzeugnisse zu fertigen. Für die Kosten-Nutzen-Abwägung zwischen mehr Nützlichkeit und weniger Privatsphäre fordert er jedoch eine „Machtbalance“ zwischen denen, die den besonders sensiblen Rohstoff „Privacy“ zur Verfügung stellen und denen, die mit ihm Geld verdienen. Sein Vorschlag: Transparenz über Art und Umfang der Verwendung und die Möglichkeit zur Intervention, wenn Verwendungen nicht gewollt sind. Und das Recht, die individuellen Daten nach deren Nutzung wieder zurück in die geschützte Privatsphäre zurückholen zu können. 

 

Digitale Übergriffigkeit ist ein Angriff auf die Freiheit

 

Bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Mit lockenden Metaverse-Verheißungen versucht Mark Zuckerberg die Hemmschwellen für ungebremsten Rohdaten-Zufluss auf sein nächstes großes Ding präventiv zu senken. Die Unbedenklichkeit, mit der ganze Industrien Terabytes an persönlichen Daten und Interaktionsprofilen auf die TikTok-Server schaufeln, ist atemberaubend. Zumal alle wissen, dass die in einem Staat laufen, der jederzeit Zugriff hat und nimmt, wenn er seine totalitäre Ordnung durch zu viel individuelle Freiheit bedroht fühlt. Und Google schafft es trotz erkennbarer Anstrengungen nicht, sein Geschäftsmodell substanziell zu diversifizieren, bleibt also auf absehbare Zeit ganz oben auf der Datensauger-Skala. 

 

Sie sind nicht allein. Als vor Jahren LinkedIn in Deutschland startet und ich Mitglied werde - komme ich in den Genuss einer wundersamen Freund:innen-Vermehrung. Über einen längeren Zeitraum hinweg finden sich immer wieder Menschen in meiner Freundesliste, die ich gar nicht kenne. Direkte Kontaktaufnahmen mit denselben schüren einen Verdacht: Könnte hier ein wohlmeinender Freund:innen-Generator am Werk sein? Als ich mich bei LinkedIn beschwere, wird mein Verdacht geradezu empört zurückgewiesen. Die Freund:innenvermehrung hört danach auf.  

  

Wann kommt der Persönlichkeitsgenerator als App?

 

Lohnt die digitale Selbstverteidigung? Ich meine ja. Verkürzen wir uns also das Warten auf multinationale Regeln und Regulierungen zum Schutze der digitalen Selbstbestimmung mit kleinen Guerilla-Aktivitäten gegen die Wirkmechanismen des kommerziellen Datenraubs. 

 

Vielleicht basteln findige Programmierer:innen ja eine App, die nichts anders macht, als multipel Persönlichkeitsprofile zu generieren: eine für Instagramm, eine andere für den britischen Hemden-Lieferanten, noch eine für die Fotocommunity und eine gänzlich unverdächtige für die Online-Vinothek. Oder gibt es die etwa schon? Der/die autonome Konsument:in ist machbar. 


Juni 2022

Corona, Krieg und Social Media schaffen einen neuen Kommunikationsstil: den Habeck-Standard 

 

Warum sieht Olaf Scholz als Kommunikator seit Wochen so schlecht aus? Weil als Benchmark neben ihm nicht mehr die Altmeiers, Spahns und Karliczeks ihre Worthülsen in die Mikrophone stanzen. Mit Robert Habeck und Annalena Baerbock erleben wir zwei Kommunikationstypen, die ihre Art zu kommunizieren zum neuen Goldstandard nicht nur der politischen Kommunikation erheben. Ganz zu schweigen von dem ukrainischen Präsidenten, der mit zwei ehemaligen Berufsboxern an seiner Seite unter weitaus dramatischeren Umständen neue Maßstäbe in der Kommunikation setzt.

 

Der Habeck-Standard: Was macht den neuen Stil so neu?

 

Die Zeitenwende in der professionellen Kommunikation hat mindestens schon vor zwei Jahren, mit Beginn der Pandemie und mit Leuten wie Christian Drosten, Sandra Ciesek, Melanie Brinkmann oder Mai Thie Nguyen-Kim begonnen: Komplexe Dinge einfach erklären, nicht um Tatsachen herumreden. Mit dem Mut zur Wahr- und Klarheit sachlich und empathisch zugleich sein, auch mal eigene Zweifel zulassen. Vor allem nicht so tun, als hätte man für alles eine Lösung. Viel mehr anschaulich erläutern, wie und woran gerade an Lösungen gearbeitet wird. Und Widerspruch nicht wegignorieren, sondern aktiv und argumentativ aufgreifen.

 

Im neuen Ökosystem der Kommunikation geht es um Augenhöhe, für alle.

 

Die umfassende digitale Vernetzung durch Internet und Soziale Medien hat eine nie dagewesene kommunikative Unmittelbarkeit etabliert. Immer weniger werden Inhalte über mediale Gatekeeper zeitlich versetzt verarbeitet und distribuiert. Immer häufiger senden Absender:innen ihre Botschaften über soziale Netzwerke ohne Umweg direkt an ihre Adressaten. Inzwischen macht das der CEO der Telekom genauso wie die Beauty-Influencerin oder der selbsternannte Staubsauger-Tester. Deren Zielgruppen reagieren direkt und verbreiten die Inhalte inklusive eigener und fremder Kommentierungen in die eigene Community hinein. Das ist nicht nur ein neuer Vertriebsweg. Laut Lars Niggemann, Gründer und CEO von  PREVENCY erfordert das „neue Ökosystem der Kommunikation“ substanzielle Veränderungen in Art und Inhalt der Kommunikation selbst. „Augenhöhe“ lautet das Erfolgskonzept der Social Media-Kommunikation. Das betrifft nicht allein die Inhalte, sondern das gesamte Setting: Haltung, Kleidung, Orte, Licht etc. Das verändert auch die Live-Kommunikation.     

 

Nicht vergackeiern: Die neue Benchmark gilt auch für die Unternehmenskommunikation.

 

Wenn man, wie Robert Habeck vor die Mitarbeitenden der GKF-Werft tritt und sagt: „Ich will euch nicht vergackeiern“, dann muss danach etwas kommen, was den Leuten nichts vormacht. Etwas, dass Orientierung schafft, eben weil die Situation unklar ist. Was die Ernsthaftigkeit der Botschaft untermauert, ob sie gefällt oder nicht. Damit verbieten sich austauschbar wirkende Sprechmuster und pseudoinhaltliche Botschaftsimitate. Die Leute merken das, und zwar schon lange. Die Leute dürfen spüren, dass die Verantwortlichen um echte Lösungen ringen. Und sie wollen konkret wissen, was sie tun und wie sie daran arbeiten. Das setzt die neuen Benchmarks. Wer beim kommunikativen Handling von Werksschließungen, Restrukturierungen und ähnliche Konfliktlagen in Zukunft hinter den Habeck-Standard zurückfällt, sieht alt aus.

 

Personale Kommunikation: der neue Stil braucht neues Üben. 

 

Darauf läuft es wohl hinaus. Wem qua Amt und Aufgabe eine öffentliche kommunikative Rolle zukommt, sollte sich mit dieser Art der personalen Kommunikation intensiv auseinandersetzen – und üben. Mit den Sprech- und Medientrainings klassischen Zuschnitts kommt man damit nicht weit. Die neuen Trainingsformate werden anders gebaut: In Zukunft geht es um die Simulation von kritischen Situationen in ihrer ganzen Unmittelbarkeit. Wo der Stress, die sprachlichen, nervlichen und körperlichen Fähigkeiten und Grenzen erfahrbar und reflektierbar werden. Es geht um den virtuellen deep dive zur Entwicklung der persönlichen kommunikativen Leistungsfähigkeit im wirklichen Leben. Aus rhetorischen Sicherheitstrainings werden Ertüchtigungsübungen in glaubwürdiger Kommunikation. 

 

Kommunikationstraining mit Controller und VR-Brille.

 

Die digitale Technik hilft. Neue Generationen von virtuellen Trainingswelten und -geräten ermöglichen heute schon immersive Erfahrungen, die die Schweißausbrüche vor laufender Übungskamera als reines Zuckerschlecken erscheinen lässt. Vermutlich wird es nicht mehr lange dauern, bis wir den Auftritt auf einer konfliktträchtigen Betriebsversammlung zum Beispiel im firmeneigenen Metaverse-Trainingscenter vorab simulieren können. 

 

Jenseits der Technik werden zwei Dinge entscheidend sein. Erstens: Es braucht es eine professionelle Grundhaltung, mit der die eigene, externe wie interne öffentliche Rolle durchdrungen, verstanden und individuell gestaltet wird. Zweitens: Der Entwicklung eines entsprechenden personalen Kommunikationsprofils kommt eine noch höhere Bedeutung zu. Und sie wächst mit jeder erklommenen Verantwortungsstufe.

 

Links zum Thema

 

Habeck, der YouTube-Star

Habeck ist gold, aber gute Kommunikation ist noch keine gute Politik

Habecks Kommunikation, Der Spiegel 

Social Media und Krisenkommunikation

 

 


Mai 2022

Können wir keine Krisen mehr?

 

Deutschland taumele von Krise zu Krise und sei nie vorbereitet, schreibt Patrick Bernau im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 13. März. „Was läuft da schief?“, fragt der Autor. Die aktuelle pandemische und geopolitische Krise hat auf dramatische Art und Weise den Fokus auf ein Phänomen gelenkt, was in weiten Teilen unserer Gesellschaft verankert scheint. Wir können keine Krise mehr. Zugegeben, das ist spitz. Viele in Politik und der Wirtschaft würden das weit von sich weisen. Warum ist da doch etwas dran?

 

Erinnern wir uns an die Finanzkrise. Danach stand der Risiko-Begriff als Vorläufer aller Krisen auf dem öffentlichen Index. Nicht wenige Kommentatoren forderten, die Finanzindustrie möge doch bitte schön in Zukunft ohne jedes Risiko agieren. Also jedem Anlagevertrag noch eine Verlustrisikoversicherung beilegen, zum Preis einer Fahrradversicherung versteht sich. Rendite ohne Risiko. Warum nicht gleich die Lebensrisiko-Police mit anbieten?

  

Ohne Risiko kein Wohlstand, kein sozialer Fortschritt, keine Kultur

 

Ein fundamentales Missverständnis. Weder Sozialstaat noch Volkswirtschaft, geschweige denn die Kultur wären auch nur annähernd auf dem heutigen Stand, wenn nicht mutige Menschen unentwegt Risiken eingehen würden: Ohne unternehmerisches Risiko kein Wohlstand, ohne politische Risiken kein sozialer Fortschritt, ohne persönliche Risiken kein Erfolg, ohne künstlerische Risiken keine Kultur. 

 

Der Doyen der US-amerikanische Krisenkommunikationswissenschaften, Robert L. Heath, hat 2009 den geradezu paradigmatischen Satz formuliert: „A crisis is a risk manifested.” Was nichts anderes bedeutet als die Bereitschaft und Befähigung, mit den Risiken, die wir haben und eingehen, möglichst aktiv und offensiv zu leben und zu arbeiten. 

 

Damit hat Heath damals schon einige bis heute verbreiteten Routinen des professionellen Risiko- und Krisenmanagements in Frage gestellt: Handbücher schreiben, Aktionspläne und Sprachregelungen verfassen, Notfallübungen abhalten und ansonsten hoffen, dass nichts passiert. Prämissen, die schon lange nicht mehr hinreichend sind. Und seien wir ehrlich: Ein Großteil der existierenden, vielfach hochkomplexen Präventionsstrukturen in Unternehmen und Institutionen sind alles andere als praxistauglich. Von den Krisenmanuals, die keine sind, ganz zu schweigen. Das gilt im operativen Krisenmanagement und für die Krisenkommunikation erst recht.

 

Das neue Normal: Risiko- und Krisenmanagement als Daueraufgabe 

 

Der Überfall der Putin-Armee auf die Ukraine wird nicht nur militärisch, sondern auch in Wirtschaft und Gesellschaft einen Paradigmenwandel im präventiven Risiko- und Krisenmanagement beschleunigen: Risiko- und Krisenszenarien schonungslos entwickeln und simulieren, mit mehr Variablen und Varianten arbeiten, dynamische Entwicklungen einbauen. Und zwar möglichst „on the fly“, als integraler Bestandteil des professionellen Alltags.

 

Schließlich stehen wir ganz abgesehen vom Ukraine-Krieg vor regionalen, nationalen und globalen Herausforderungen, die den Normalzustand in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft immer mehr zu einem permanenten Risikomanagement machen, krisenhafte Zuspitzungen mit inbegriffen.   

 

Neue Bedrohungen kommen hinzu, Stichwort Cybercrime. Schon heute kämpfen Unternehmen, Stadtwerke und Krankenhäuser gegen cyberkriminelle Erpresser. Besondere Konjunktur erlebt das Instrument der Desinformation. Die unter Stalin und in der Sowjetunion bereits zu beträchtlicher Qualität gebrachte Form der informativen Kriegsführung entwickelt in der digital vernetzen Welt ganz neue Qualitäten. Dazu braucht es noch nicht einmal ausgewachsene Despoten. Engagierte Querdenker oder böswillige Wettbewerber reichen da völlig aus.

 

Um mit den neuen Risiken zurechtzukommen, müssen wir selbst mehr Risiko wagen. Krisenprävention in digital vernetzen, sich permanent dynamisch entwickelnden Strukturen heißt vor allem, in selbigen zu denken und zu arbeiten. Und zwar jeden Tag.

 

Resilienz durch innere Stärke

 

Das Zauberwort lautet Krisenresilienz. Damit nimmt ein weiterer Paradigmenwandel im Risiko- und Krisenmanagement Fahrt auf. Risiken einschätzen und im Krisenfall das richtige tun müssen alle lernen, die Verantwortung tragen, nicht nur offiziell bestellte „Crisis Manager“. Die wird es auch weiterhin geben, mit all dem dazugehörigen Spezial-Know how und vor allem der einschlägigen Erfahrung. 

 

Die Krisenfähigkeit einer Organisation wird in Zukunft vor allem auch von ihrer inneren Resilienz und Stärke abhängen. Crisis Readiness heißt das Ziel. Dazu braucht es auf allen Ebenen Kräfte, die mindestens über Grundlagenqualifikationen in Risiko- und Krisenmanagement verfügen. Was wiederum erhebliche Anforderungen an Krisentrainings im Speziellen und an die Führungskräftequalifikation insgesamt stellt. 

  

Serious Risc Gaming: die digitale Simulation komplexer Risiken und Krisen 

 

Die digitalen Möglichkeiten eröffnen hierfür gänzlich neue Trainings- und Erfahrungsräume. Wir schaffen realitätsnahe Szenarien, in die wir eintauchen können. Dort durchleben wir Krisen, probieren Lösungen, machen Fehler und lernen, sie zu korrigieren, als Teil eines großen, ernsthaften Spiels. Die Stichworte lauten: Virtuelle Realität, Serious Gaming und Immersion, also die professionelle Simulation von antizipierter Wirklichkeit.

 

Es gibt bereits Systeme, die so arbeiten. Sie machen es zudem möglich, Risiko- und Krisenszenarien in den laufenden Betrieb einzuspeisen. Auf Krise machen im Schulungszentrum verliert an Bedeutung. Im wirklichen Leben spielt die Musik: Weniger Notfälle üben, mehr Risiken simulieren. Weniger Abläufe schulen, mehr Krisen spielen. Weniger Jahresübungen, mehr Risk & Crisis-Checks bei laufendem Geschäft. 

 

Die Lern- und Erfahrungseffekte erhalten im immersiven Erlebnisraum neue Qualität. Sie fördern und stärken eine offensive und angstfreiere Haltung im Umgang mit Stärken und Schwächen, mit professionellen und persönlichen Risiken. Mehr denn je wird es in Zukunft um die Befähigung zur Crisis Leadership als Teil der Management Performance insgesamt gehen. Ganz nach dem Satz von Max Frisch: „Krise ist ein produktiver Zustand. Man muss ihm nur den Beigeschmack der Katastrophe nehmen“.

 

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